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Lara öffnete ebenfalls die Autotür und stieg aus. Cas war sofort an ihrer Seite und stützte sie ab. »Ich ... es ist besser, wenn ich dich trage.«

Lara schüttelte den Kopf. »Nein, ich will den Boden unter meinen Füßen spüren.«

Cas schaute sie an, nickte kurz, holte einen weiteren, schwarzen Rucksack von der Rückbank, schwang ihn sich um die Schulter und verriegelte das Auto. Er nahm ihre Hand und führte sie über den Parkplatz, über die Wiese mit den Linden, bis hin zum Steinstrand. Der schwarze Steg lag wie eine Verbindung zu einer anderen Welt in der Dunkelheit. Am Ende der langen Holzbalken schaukelte ein Boot auf dem Wasser hin und her. Als Cas sie über das feuchte Holz führte, weiteten sich ihre Augen. »Ist das ... «

»Mhm, damit werden wir fahren«, sagte Cas.

»Woher hast du das?« Sie liefen die letzten Schritte bis auf die breite Plattform des Stegs, an dessen Rand das Boot mit einem Strick an einem Pfosten festgebunden war.
Er zog die Schultern hoch. »Bootsverleih am Hafen.« Cas half ihr beim Ansteigen. Lara fühlte sich immer noch sehr wackelig auf den Beinen und so musste sie sich an seinen Schultern festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie setzte sich auf einer der blaugestrichen Bänke am Rand des Motorboots. »Aber das ist doch teuer!«

Cas kletterte zu ihr, band den Strick los, schaltete den Motor an und setzte sich auf die andere Seite, um sie auf den offenen See hinaus zu steuern. »Na ja«, er legte den Kopf leicht schief und grinste. »Nicht wenn man dem Typen am Verleih sagt, dass man eine Freundin im Krankenhaus hat, die unbedingt über den See fahren will.«
»Was?« Lara schüttelte den Kopf und lachte. »Man, Cas, der arme Mann denkt doch jetzt, ich wäre sterbenskrank und das hier mein letzter Wunsch.«

Cas zog die Schultern hoch. »Das habe ich nie zu ihm gesagt.« Er lächelte und sah sie aus wachen Augen an. »Wenn ich das Boot zurückbringe, kann ich es ihm ja erklären.«
Dann wurde sein Blick auf einmal ernst. »Kannst du mir etwas versprechen?«

Lara hob die Brauen. »Was denn?«
»Spring nicht ins Wasser. Ertrinke nicht. Bleibe bei mir.«

Sie schaute ihn an. Seine Lippen bebten leicht. Lara konnte sehen, wie er litt. »Ich verspreche es.«

Cas fuhr noch ein Stückchen weiter, bis aus dem Steg nur noch ein verschwommener Strich in der Landschaft wurde, dann schaltete er den Motor ab. Lara konnte das Plätschern des Wassers hören, welches in sanften Wellen gegen den Bug und die Seiten schlug. Es roch ein wenig nach Seetang. Cas zog eine Thermoskanne und zwei Plastikbecher aus seinem Rucksack und schenkte ihnen nach Zimt duftenden Tee ein. Lara nahm den Becher in beide Hände und wärmte sie daran. Sie trank ein paar Schlucke und legte dann den Kopf in den Nacken, um die Sterne zu betrachten. »Es ist wunderschön hier«, sagte sie.

»Ja ... Lara?«

Sie neigte ihren Kopf und schaute ihn an. »Hm?«

»Kannst du dich echt nicht daran erinnern, was passiert ist? Was du am See gemacht hast?«

Lara schüttelte den Kopf. Diese Nacht lag komplett im Nebel und irgendwie bezweifelte sie, dass sie sich jemals an alles würde erinnern können. Cas nippte an seinem Tee und kippte den Rest in einer hastigen Bewegung in den See. »Das ist vermutlich auch besser so.«

»Cas ... « Lara sah ihn stirnrunzelnd an. »Ist alles okay?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Cas nahm ihr den Tee aus den Händen und schüttete den Inhalt ebenfalls in den See. »Was macht du denn da?« Lara konnte nicht einschätzen, ob er wütend oder traurig war, oder einfach beides. Er nahm ihre Hände in seine und drückte fest zu. Cas kniete sich vor sie. Ihre Gesichter waren nun gleich auf. Sie spürte seinen schnellen Atmen auf ihrer Haut und dann küsste er sie.
Seine weichen Lippen drückten sich auf ihre, verzweifelt, suchend. Lara seufzte leise und öffnete den Mund. Ihre Hände verschwanden in seinen Haaren. Cas legte seine Hände auf ihren Rücken und zog sie zu sich hinab. Er löste seine Lippen von ihren, schloss die Augen und küsste sie erneut. »Du bist wunderschön«, flüsterte er. Cas legte eine Hand auf ihre Wange und sah sie an. Die Zeit blieb stehen.
»Cas ... «, flüsterte sie.

»Hm?«

Sie betrachtete seine vor Erregung tiefroten Lippen, legte den Kopf schräg und küsste ihn. Vorsichtig, fragend. Er stöhnte an ihren Lippen, legte die Arme um ihren Nacken und verstärkte den Druck. Seine Zunge tastete sich vor, umkreiste ihre. Etwas warmes tropfte auf ihr Gesicht, drang in sie ein, ließ ihren Körper vibrieren. Cas saugte leicht an ihrer Oberlippe, fuhr mit den Lippen weiter nach unten, küsste ihr Kinn, ihren Hals, ihr Schlüsselbein. Laras Haut brannte unter jeder seiner Berührungen. Er zog sie mit sich hinab und drückte ihren Kopf auf seine Brust. Sie spürte wie er schwer atmete. Ihr Herz raste und raste, die Welt drehte sich, das Boot schaukelte. Und mehr wollte sie nicht, nur bei ihm sein.
»Ich glaube, sie ist gestorben«, sagte Cas nach einer Weile. Sie lagen beide nebeneinander auf dem Rücken und schauten in die Sterne. Lara umgriff seine Hand.

»Es ist vorbei«, sagte er. »Alles ist endlich vorbei.« Er streckte den Arm nach oben, als würde er die Sterne berühren wollen. »Ich glaube, sie ist jetzt frei.«
»Sie sind beide frei. Deine Mum und mein Dad.«

Cas drückte ihre Hand. »Und ich glaube, ich ... «, er drehte den Kopf zur Seite und sah sie an, » ... habe mich in dich verliebt.«

Lara spürte wie sich etwas in ihr Löste. Sie drückte ihre Stirn gegen seine und fühlte sich, als könnte sie mit ihm davonschweben. »Das Leben ist ... «, flüsterte sie.

»Es ist wie ein Bild«, sagte er und strich ihr sanft die Tränen von der Wange. »Ich will, dass es unser Bild ist.«

»Wie ein Neuanfang?«

»Ja ... Du und ich.« Er lächelte und küsste sie.
Sie lagen noch lange in der Nacht. Ein leichter Wind trieb ihr Boot immer weiter hinaus.
»Wie es wohl wäre, wenn wir uns einfach treiben lassen, bis zur anderen Seite?«, fragte sie und wickelte eine seiner Haarsträhnen um ihren Finger.

»Das wäre wunderbar«, sagte er. »Über den See fahren, oder noch besser, über das Meer, bis zu einem anderen Land.«
Lara lachte leise. Aber es war ein trauriges Lachen. »Ich könnte meine Schwester nicht alleine lassen.«
»Ich bleibe, wo auch immer du bist«, sagte Cas und legte seine Hand auf ihren Bauch. Dort ruhte sie, schwer und warm – wundervoll warm ...

Lara würde ihn nie wiederhergeben, diesen Jungen. Sie betrachtete ein paar Wolken, die über denSichelmond zogen. Frei sein, überlegte sie. Konnte sie, hier, jemals wiederfrei sein? Gehörte sie hier überhaupt noch hin? Sie wusste es nicht.


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