-36-

239 36 6
                                    

Susi blieb eine Weile und sie aßen Crêpes, aber dann musste auch sie gehen.

Die Nacht kam und mit ihr der Schlaf, fast als würde sie ein normales Leben führen.

Wenn SO ein normales Leben war, dann hasste sie es. Denn es bedeutete Einsamkeit.

Menschen zu verlieren, war normal. Es passierte überall ...

Normal ...

Sie drückte ihr Kopfkissen an sich wie ein Kuscheltier bevor sie einschlafen konnte.
Am anderen Morgen wurde sie sehr früh von einer jungen Krankenpflegerin mit hellblondem Haar geweckt, die Visite machte. »Was ist heute für ein Tag?«, wollte Lara wissen.

»Mittwoch«, antwortete sie.
»Den wievielten?« Lara streckte sich und gähnte. Ihre Ohren taten ihr immer noch weh und das dumme Kratzen im Hals würde sie wohl noch für eine Weile begleiten.
»10.11. Wie fühlst du dich?«

»Gut«, sagte Lara. Sie wollte nur noch hier raus.

Die Pflegerin hielt ihr eines dieser Hightechfiebermesser ans Ohr. »38,1«, sagte sie seufzend.
Lara betete innerlich: Bitte lasst mich gehen, bitte lasst mich geeehn!
»Aber ich schätze, du kannst dich auch genauso gut Zuhause auskurieren. Ich spreche mal mit deinem Arzt über die Entlassung.«

Lara atmete erleichtert aus. Sie richtete sich auf und schaute aus dem Fenster. Draußen war es noch dunkel, die Sonne würde erst in einer Stunde aufgehen und eine Entlassung erst gegen acht Uhr in Sicht. Lara fragte sich, wo Cas gerade steckte. Ob seine Mutter wirklich gestorben war in dieser Nacht? Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Er durfte sich nicht wieder solange nicht melden. Sie würde verrückt werden! Um halbacht kam Susi, schenkte ihr ein gebrauchtes, neue Smartphone und half ihr beim Packen. Um halbneun waren die Entlassungspapiere unterschrieben. Um kurz nach halbneun klopfte es zögernd an der Tür. Ein blasses Gesicht und schwarze Haare schauten durch den Türspalt hervor. »Hi«, murmelte er und schlüpfte ganz in das Zimmer. Er trug ein schwarzes Hemd und eine Stoffhose. »Cas!« Lara sprang vom Bett, an Susi vorbei und schlang ihre Arme um ihn. Er strich ihr leise lachend durch die Haare und flüsterte: »Ich hab dich auch vermisst.«
Susi räusperte sich und Lara ließ ihn schnell los. »Du, also ... «, sagte sie und beäugte ihn stirnrunzelnd. »Du warst mit Lara schon im Wunderkästchen.«

»Cas hat mich betrunken am See gefunden und mich erst ins Krankenhaus gefahren«, sagte Lara und musterte wie Cas sich verlegen am Hinterkopf kratze. »Na ja, sie hat mir ne SMS geschrieben, dass sie sich am See ... rumtreibt.«

»Aha.« Susi verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Dann ist ja gut.«

»Tut mir leid, ich konnte dich gestern nicht besuchen. Hatte ne Menge zu regeln.« Er räusperte sich und sah ihr kurz in die Augen.

»Schon gut.« Lara berührte ihn an der Hand und ignorierte die Tatsache, dass Susi noch im selben Raum stand.

»Möchtest du sie sehen?«, fragte er und senkte dabei leicht die Lieder. Lara bewunderte seine langen Wimpern. »Wen?«, fragte sie, wusste es aber im selben Augenblick. »Deine Mum?«

Er nickte. Lara schaute zu Susi. »Kannst du meine Sachen vielleicht schon ohne mich mitnehmen?« Sie blinzelte und versuchte irgendwie ... süß auszusehen.

»Wie bitte? Lara, du gehörst ins Bett.«

»Ich muss kurz ... « Sie schaute zu Cas. »Er kann mich danach zu dir fahren.«
Cas zog die Brauen hoch, dann sah er zu Susi und nickte eifrig. »Ich passe auf sie auf. Wenn es sein muss, kann ich sie auch tragen.« Lara musste grinsen und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Oh man, sie verhielt sich wie ein Teenager.

»Nach was?«, fragte Susi und schob sich ihre Rasterlocken über die linke Schulter. Ihre braungrünen Augen musterten Cas prüfend. Cas verlagerte, merklich nervös, das Gewicht von einem Bein auf das andere. »Das ist ... privat«, brachte Lara hervor und verschränkte die Finger ineinander.

Susi seufzte. »Ich hätte nicht extra herfahren müssen.« - Das hieß JA.

»Sorry und danke!« Lara strahlte sie an und da musste auch Susi lächeln.

Cas führte sie aus dem Krankenhaus heraus. Lara blieb vor der Eingangshalle stehen und zog verwundert eine Augenbraue hoch. »Ich dachte wir gehen zu deine Mum?«

Cas nickte und strich ihr eine Haarsträhne hinter die Ohren. »Wer war eigentlich die rothaarige Frau?«

Er lenkte vom Thema ab!!! »Susi, du hast sie schon im Wunderkästchen gesehen. Sie ist die beste Freundin meiner Mum und für mich sowas wie eine Tante. Susi kümmert sich ein wenig um uns. Meine kleine Schwester und ich.«
»Ach so ... Wie heißt deine kleine Schwester?« Er führte sie hinaus auf den Weg zu den Parkplätzen, während er sprach.
»Sophie. Cas wohin gehen wir?«
»Siehst du dann.« Er schaute ernst geradeaus und schien seinen Wagen unter den parkenden Autos zu suchen. »Hast du Geschwister?«, fragte Lara.

Cas schüttelte den Kopf. Er schien seinen Ford gefunden zu haben, denn er beschleunigte seinen Schritt. Lara fühlte sich noch nicht ganz gesund und wäre gerne langsamer gegangen, aber Cas schien angespannt. Er joggte fast zu seinem Wagen und hielt ihr die Beifahrertür auf. Lara schlüpfte, dankbar sich setzten zu können, hinein. Sofort strömte ihr der angenehme Geruch von Lavendel und Wald entgegen. Cas setze sich neben sie und fuhr ohne ein weiteres Wort los. Erst nachdem sie ein paar Minuten gefahren waren, schien er sich wieder ein wenig zu entspannen und fragte: »Wie geht es dir?«

»Gut.« Lara stich sich ihr schwarzes T-shirt mit grauem Gothiksmiley glatt und fing an, an dem Reißverschluss ihres offenen Mantels zu spielen.
Cas schielte kurz zu ihr herüber. »Du bist immer noch ziemlich blass.«

Lara seufzte. »Wo fahren wie hin?«

»Siehst du gleich.«

»Wieso machst du so ein Geheimnis daraus? Cas, was ist mit deiner Mum?«

Er zog die Schulter hoch. »Siehst du gleich.«

Lara lehnte sich ans Fenster und schaute hinaus. Sie tuckerten durch die Innenstadt. Die ersten Menschen saßen in Cafés oder kauften sich Frühstück beim Bäcker. Sie fuhren etwa fünfzehn Minuten durch den stockenden Verkehr und hielten dann etwas abseits der Innenstadt vor einem grauen Gebäude mit einem schwarzen Schild am Eingang. Lara fröstelte unwillkürlich. »Bestattungsinstitut«, stand in weißen Lettern auf dem Schild. »Cas ... « Sie spürte wie ihr das Blut aus dem Gesicht in ihre Füße lief. »Sie ist wirklich ... «

»Gestorben?« Er nickte, schaltete den Motor ab und stieg aus dem Wagen.

Lara blieb noch einen Moment sitzen und starrte auf das flache Gebäude. Einige Büsche wuchsen um den kleinen Parkplatz und ein schwarzer Leichenwagen parkte in einer halbgeöffneten Garage, direkt neben dem Gebäude. Cas lief um das Auto herum und öffnete ihr die Tür. »Keine Angst, Leichen beißen nicht«, sagte er, lächelte aber nicht. Lara stieg aus und schaute ihn stirnrunzelnd an. Er nickte nur auf ihre unausgesprochene Frage, nahm sie bei der Hand und betrat mit ihr das Leichenschauhaus.


ScherbenbildWo Geschichten leben. Entdecke jetzt