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Dienstag, 22. Dezember, 20:43. Alles war gepackt und vorbereitet. Das Geld würde für eine Weile reichen, dann könnte sie bei Yugis Eltern unterkommen, bis sie wussten, wie es weiterging. Groß Zeit zum Planen hatten sie ja nicht gehabt. Aber der Nervenkitzel ins Ungewisse aufzubrechen, machte Cas regelrecht euphorisch. Das Kündigungsschreiben für die Wohnung, lag bereits auf dem Tisch. Da das Arbeitsamt die Wohnung bezahlte, durfte sie sich mit der drei Monatsfrist beschäftigen. Er war nicht länger Sklave dieser Organisation. Es tat ihm nur für den Vermieter leid, der sich ja auf solche Vorschriften verließ. Immerhin hinterließ er die Wohnung sauber, ordentlich und komplett möbliert. Cas verstaute das Nötigste in seinem Ford. Natürlich durfte auch sein Katana nicht fehlen. Anschließend fuhr er zur nächsten Aral-Tankstelle, tankte voll, besorgte am nächsten Supermarkt ein paar Snacks für die Fahrt, eine Torte für Lara und fuhr dann zum Friedhof. Es nieselte leicht und die Sonne war bereits untergegangen, als er über den Kiesweg und dann über die Wiese zum frischen Grabstein seiner Mutter lief. »Mögen die Engel dich führen«, stand auf dem Grabstein. Cas setzte sich in den feuchten Rasen und bettete seine Hände auf den Schoß.

»Morgen beginnt mein neues Leben«, sagte er zu dem Grabstein. »Ich wollte Lara etwas ganz besonderes zu Weihnachten schenken. Jetzt wird sie morgen achtzehn und ich habe nichts für sie, nichts außer mein Leben und unser Neuanfang. Ich glaube, ich kann sie lächeln sehen. Ganz oft ... Das ist genug und doch fühle ich mich, als könnte ich ihr nie genug geben. Deswegen werde ich einfach für immer bei ihr bleiben. Wir werden uns nicht verlassen, Mum.« Er fuhr mit den Handflächen über das feuchte Gras. »Das Märchen ist so traurig und ich hoffe, du bist jetzt glücklich. Hast du ihn gefunden, Dad? Er ist damals gestorben, oder? Deswegen hat er sich nie gemeldet, aber für dich war sein Tod wie ... warum dachtest du, er könnte wiederkommen? Dein großes Geheimnis, was? Vielleicht ist Dad einen anderen Tod gestorben, keinen Physischen. Das Märchen war nie dazu gedacht, für mich, es zu verstehen, habe ich recht? Dein trauerndes Herz hat gesprochen ... Was war an diesem Mann, dass du ihn nie vergessen konntest? Ich hoffe, du hast deinen Frieden, wo auch immer du bist. Du bist weitergezogen, also werde ich es auch tun. Lara und ich, wir leben und vor ihr, da habe ich immer geglaubt, zu wissen, wie wertvoll das Leben ist. Weil du krank warst und ich gesund. Aber erst jetzt, weiß ich es wirklich. Es gibt soviel zu sehen, so viel zu entdecken. Die Welt steht uns offen und ich ... ich freue mich.«


Als er vom Friedhof wiederkam, sah sein Briefkasten seltsam demoliert aus, er fand aber keine Post darin. Cas dachte sich nichts weiter dabei und warf dem Vermieter die Kündigung in den Kasten. Jetzt konnte er nur noch warten, nochmal aufs Klo gehen, ein paar Wasserflaschen einpacken, alles kontrollieren und dann nochmal kontrollieren und schlussendlich losfahren. Er schrieb Lara eine SMS.

Cas:
Ich bin ganz schön aufgeregt und du?
Bist du bereit? Wirklich bereit? Ich warte auf dich.
Ich liebe dich ...


Er steckte das Handy weg und kontrollierte dabei, ob er das Ladekabel eingepackt hatte.

Tief durchatmen, sagte er zu sich selbst. Für Lara musste das alles viel nervenaufreibender sein und auch traurig. Schließlich gab es hier noch Menschen, die sie liebten. Eine Art Familie, die an ihr festhielten. Cas hingegen hatte nichts, außer Lara, für das es sich zu bleiben lohnte. Er wäre jetzt gerne für sie da, wusste aber; sie musste das alleine, für sich machen. Abschiede taten immer weh ... Mitternacht. Er schaute auf die Uhr. Halbelf. Sie würde keinen Rückzieher machen, da war sich Cas sicher. Es war ihre Entscheidung gewesen und sie hatte sie getroffen, damals, auf dem Parkplatz nach dem Schulball. Vermutlich schon früher, im Unbewussten, aber an diesem Abend, da war ihr Wunsch ganz klar gewesen. Cas gähnte. Er stand auf, machte sich noch einen Café und goss ihn in eine Termuskanne. Dann fuhr er los. Am Hauptbahnhof war keine Menschenseele. Er parkte hinter dem Gebäude und setzte sich in die leere Wartehalle. Eine schwarze Uhr mit weißen Zahlenblatt, hing an der Wand und gab ein lautes Ticken von sich. Halbzwölf ... Er studierte die Fahrpläne. Um kurz nach zwölf fuhr der letzte Zug, danach würde man die Wartehalle abschließen. Cas summte die Melodie von Metallica – The Unforgiven nach. Er schaute immer mal wieder auf sein Handy, doch sie schrieb nicht. Das machte ihn nervös, aber wahrscheinlich schrieb sie gerade noch an einem Abschiedsbrief.

Was würde er tun, wenn sie nicht kam? Noch zehn Minuten ...

Vermutlich nicht viel. Dann würde das Leben weitergehen. Er wollte sie nicht von ihrer Familie trennen, aber er wusste es. Er wusste es, genauso gut wie sie, dass sie ihre alte Haut nicht länger tragen konnte. Cas würde sie verlieren, wenn sie sich dazu entschied, zu bleiben. Denn er würde sie immer nur an die Freiheit erinnern, die sie haben könnte und die Liebe und die Heilung. Sie heilten sich gegenseitig ... Liebe, darum ging es. Es geht immer um die Liebe.

Sie waren zu groß, für ihr altes Leben. Ihr neues Bild passte nicht in diesen Rahmen. Am Ende würden sie an dem Versuch ersticken zu leben, wenn sie blieben, oder mit Laras Mutter und Schwester nach Köln ziehen würden. Die Gitter aus Schmerz würden sie doch nur verfolgen und ihre Flügel, die Flügel, die sie nur zusammen haben konnten, würden klein bleiben und niemals fliegen können. Punkt Zwölf. Sie war noch nicht da. Er stand auf und wartete vor dem alten Gebäude mit dem hohen Turm, der einsam in den Nachthimmel ragte und alles überwachte.

Zehn nach Zwölf. Cas fing an, auf und ab zu laufen. Vielleicht hatte sie den letzte Bus in die Stadt verpasst. Aber dann hätte sie ihn doch angerufen ...
Zwanzig Minuten. Er rief sie an, aber ihr Handy war abgeschaltet.

»Verdammt!« Er trat gegen die Bordsteinkante der Parkplätze. Wie lange sollte er warten?

Er tigerte über den Parkplatz, hielt nach ihr Ausschau. Halbeins. Sein Magen verkrampfte sich zusehends. Was war passiert? Viertel vor eins. Cas kam es vor, als wäre alles nur ein Traum gewesen. Die ganze Zeit mit ihr, ein einziger, langer Traum und er befürchtete, sie wäre nur eine Einbildung gewesen. Eine lange, schöne Einbildung.

Fünf nach eins. Sollte er zu ihr fahren? Und dann? Er wollte sie nicht drängen. Entweder sie kam, oder sie kam eben nicht. Noch eine halbe Stunde, sagte er sich, oder eine Stunde, nicht länger, dann würde er nach Hause fahren und die Kündigung aus dem Briefkasten fischen.

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