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Freitag, 13 November. Irgend so ein Typ mit Glatze und Springern versperrte Lara den Weg zur Bushaltestelle. Er stank nach Zigarettenqualm und Alkohol.

»Du musst Lara sein«, sagte er laut und grinste hässlich zu seinen beiden Kumpels, die wie brave Hündchen in Lederjacken neben ihm standen.

»Geh mir aus dem Weg«, sagte Lara, die überhaupt keine Lust verspürte, sich mit ein paar Bekloppten zu prügeln. »Carlo ist mein Bruder, Süße, wusstest du das?« Er grinste und zeigte dabei erstaunlich weiße Zähne. »Das ist mir herzlich egal.« Lara wollte an den Jungs vorbei, aber sie ließen sie nicht.
»Wegen dir ist er suspendiert, Schlampe!« Er spuckte ihr das Wort nur so vor die Füße.

»Daran ist er selbst schuld.« Lara straffte ihre Schultern. Sie würde sich von dem Typen sicher keine Angst einjagen lassen. Er lachte laut und schob seine Lederjacke ein wenig zur Seite. Zum Vorschein kam eine kurze Scheide an einem Gürtel um seine Hüfte, in der ein Messer steckte. »So leicht kommst du nicht davon Hexenbeach. Glaub mir.« Carlos Bruder verbarg sein Messer wieder unter der Jacke. Er würde ihr hier nichts antun. Zu viele Menschen. Außerdem fürchtete sich Lara nicht vor dem breitschultrigen Fleischberg. »Ich will keinen Streit, ok?«, sagte sie. »Am Montag ist die Suspendierungsfrist vorbei und alles wieder normal.«
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen«, sagte einer der braven Hündchen.

»Ich kenne Tussis wie dich«, sagte Carlos Bruder. »Halten sich für was besseres.« Er spuckte von Tabak braune Sabber auf den Boden. Lara verzog keine Miene. »Wenn du meinst, darf ich dann jetzt? Der Bus wartete nicht auf mich.« Sie drängte sich an den Bekloppen vorbei. Lara kannte solche Drohungen schon, meist nichts als leere Worte, nichts dahinter, nur kleine Jungs, die zu wenig Zuneigung in ihrer Kindheit erfahren hatten. Sie fuhr kurz zu Susis Wohnung, stellte ihr Schulzeug ab, duschte sich und fuhr dann weiter ins Wunderkästchen. Susi erwartete sie bereits mit selbstgemachten Käsespätzle. Es war, wie immer, nicht viel los im Laden. Keiner sprach es aus, aber alle wussten es; sie konnten den Laden nicht viel länger halten. Die Umsätze schrumpften und die Schulden wuchsen. Susi würde ihren Hauptjob verlieren und ihre Mum den Laden. Es war traurig, aber Lara fühlte sich nicht im Entferntesten so verzweifelt, wie sie sich hätte fühlen sollen. Feine Risse entstanden auf ihrer Haut und so zerbrach auch ihre alte Welt. Lara hoffte, darunter würde sich eine neue, bessre Art zu Leben verbergen.
Loslassen. Darum ging es. Sie mussten alle loslassen und vielleicht tat es gut, wenn das Alte verging. Man konnte sich schließlich nicht ewig an etwas festhalten, was nicht zu halten war.
Ihre Mutter und Susi würden das sicher anders sehen, deswegen sprach sie diese Gedanken nicht laut aus. Sie sprach generell wenig mit Susi oder Sophie über ihre Gedanken und Gefühle. Manchmal schien es ihr, als würden sie einfach nicht mehr hier her passen. In das Wunderkästchen, in Susis kleine Wohnung. Sie waren zu groß, zu neu, zu ... Lara konnte es nicht in Worte fassen. Sie wollte Eimer mit Farbe über die grauen Wolken des Novembers kippen, bis es rote, blaue, gelbe und violette Tropfen vom Himmel regnete. Nach dem Essen wollte Susi ein ernstes Gespräch mit Lara führen. Sophie war noch nicht da, da sie mit Freunden ins Hallenbad ging. Lara freute sich darüber. Es hieß, sie fand langsam wieder ins Leben zurück.
»Nun, Lara«, verkündete sie und sie setzten sich an einen der Tische des Cafés. Nur Hime saß in der Ecke, schlürfte einen Tee und blätterte in einem Buch über Seefahrt. Hin und wieder schielten ihre dunklen Augen zu ihnen hinüber, aber Lara störte das nicht. Hime war ein neugieriger Mensch, aber sie tratschte nicht. Susi kratzte sich an der Stirn. »Du bist ja jetzt häufiger mit diesem Cas zusammen und das ist auch völlig in Ordnung, nur ... « Lara seufzte und stützte ihren Kopf auf die Hände ab. Sie ahnte, was jetzt gleich kommen würde. »Ach Lara, Süße, zieh nicht so ein Gesicht. Deine Mum ist nicht da und ich trage die Verantwortung für dich. Also kurz und knapp. Tagsüber ja, nachts nein. Zumindest, bis ich ihn nicht besser kennen gelernt habe.«

»Susi ... «, setzte Lara an, aber sie brachte sie mit einem heftigen Kopfschütteln zum Schweigen. »Ich versuche diese Familie irgendwie zusammenzuhalten, Lara. Du bist kaum noch Zuhause. Sophie vermisst ihre Schwester.«

In Lara begann etwas zu pochen.
»Bis deine Mum wiederkommt, sollten wir versuchen, etwas mehr zusammenzuhalten. Ich weiß, meine Wohnung ist klein, aber trotzdem ... « Sie schüttelte leicht den Kopf. »Wir müssen ein paar Regeln aufstellen.«

»Aha.« Lara richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Erstens, brauche ich etwas Hilfe hier im Wunderkästchen. Das heißt, du musst deine Abendschichten wieder aufnehmen, Lara. Vielleicht können wir auch Flyer drucken lassen und verteilen.«

Lara zog eine Braue hoch. »Wofür?«
»Wofür? Lara, das weißt du ganz genau.«

Das Pulsieren in Lara wurde stärker. Ein Muskel in ihrer Hand zuckte. »Das ist sinnlos«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass wir das Wunderkästchen retten können.«

»Lara!« Susi fuhr sich erschrocken durch die Rastalocken. »Das ist der Laden deiner Eltern. Weißt du wie viel Herzblut daran hängt? Ist dir bewusst, dass ... «

»Es ist das Vermächtnis meines Vaters. Aber mein Vater ist tot. Maike in der Klapse und meine echte Mutter vermutlich ebenso tot. Dieser Laden ist nicht wichtig. Mir ist er nicht wichtig. Das Leben ist wichtig.«

Susi wurde blass. So blass, Lara befürchtete, sie würde sich gleich auf den Tisch übergen. Aber sie bereute nichts. Kein einziges Wort.

»Deinen Eltern ist er wichtig, Lara. Deinem Vater ... und mir. Ich arbeite hier schon seit fast zwanzig Jahren!« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Du musst dich zusammenreißen, Mädchen.«

»Ach, muss ich das?!« Sie sprang auf. »Es tut mir leid, wenn du deinen Job verlierst Susi, wirklich. Das ist beschissen und ich wünschte, es wäre nicht so. Aber es ist so. Und ich habe nicht die Kraft, den Laden zu halten. Ganz ehrlich. Maike hat sich betrunken, hat versucht sich umzubringen, Gott verdammt!« Lara fuhr sich durch die Haare. »Dad ist tot. Und er hat einen Scherbenhaufen hinterlassen. Und ich kann und will nicht, Maike wieder zusammensetzen und etwas reparieren, was nicht zu reparieren ist.«

»Hör auf deine Mutter, Maike zu nennen!« Nun sprang auch Susi auf. Ihre hellen Augen funkelten wie die eines erzürnten Drachen. »Du weißt nicht, was du da sagst. Heute Abend fängt deine erste Schicht an, kapiert?!«
»Sie ist nicht mehr meine Mutter, seit dem Zeitpunkt, als sie sich entschieden hat, uns alleine zu lassen!« Lara drehte sich um und stürmte aus den verfluchten Laden. Damit war das Gespräch beendet. In ihrem Magen tobte heiße Wut und ließ sie Galle aufstoßen. Sie rief Cas an, danach Kyle und Hanna. Sie trafen sich alle im Dojo und sahen ihr dabei zu, wie sie ihre Wut an ein paar Trainingspuppen ausließ. Hanna hatte erste Weihnachtsplätzchen mitgebracht und irgendwann saßen sie auf den Hallenboden und krümelten alles voll. Der Hausmeister würde sie einen Kopf kürzer schlagen, wenn sie die Sauerei hinterher nicht saubermachen würden. »Susi will das Wunderkästchen retten und das kann ich ihr nicht verübeln. Natürlich nicht. Aber ich will nicht«, berichtete sie ihren Freunden und stopfte sich ein paar Kekse in den Mund, während Cas ihr über die Haare streichelte – vermutlich um sie zu beruhigen.

»Man, deine Eltern haben diesen Laden schon so lange«, meinte Kyle und kaute auf seinen Fingernägeln rum. »Ihr könnt den Laden doch nicht einfach aufgeben.«

»Doch! Nein! Verflucht ... « Lara rieb sich mit den flachen Händen übers Gesicht, bis Cas sie umklammerte und in seinen Schoß legte. »Was soll ich denn machen, Kyle? Ich weiß nicht, ob ich da abends länger arbeiten will. Nicht nach Dads tot. Es war Maikes und Thomas Laden und jetzt, jetzt ist das Wunderkästchen wie ein heimatloser Geist.«

»Ach, Süße.« Hanna saß ihr gegenüber und strich ihr nun fürsorglich über die Oberschenkel.

»Deine Mum ist ja nicht ewig in der Klapse, euch fällt bestimmt was ein«, sagte Kyle und lächelte. Laras Haut durchzogen noch mehr Risse. Sie juckte und kratzte und wollte abgelegt werden. »Es fühlt sich so schwer an ... «, murmelte sie. »Ich will nicht, dass Susi ihren Job verliert. Oder Maike ihren Laden. Und wenn ein reicher Typ daherkäme und das Wunderkästchen retten würde, würde ich nicht nein sagen. Aber ich kann mich nicht hinstellen und Flyer verteilen.« Sie drückte Cas Hand und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Dann flüsterte sie so leise, dass nur er es verstehen konnte. »Ich will loslassen.«

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