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Am Montag fehlte Cas in der Schule. Er machte Überstunden bei Subways, um noch soviel Geld rauszuhauen, wie irgendwie ging. Nach der Schule traf sich Lara mit Kyle und gemeinsam liefen sie zu Herr Grubers Stand. »Und wie läuft es so mit Bella?«, fragte sie ihn.

Kyle grinste über beide Ohren. »Gut. Morgen stell ich sie meiner Mum vor.«

»Echt? Das freut mich.«

»Und du?«

»Und ich?«

Kyle blieb stehen und hielt sie am Unterarm fest. »Du und Cas. Das ist dir sehr ernst, oder?«

»Ich liebe ihn.«

»Ja, ich weiß.« Kyle schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Ich vermisse meine Schwester.«

Lara spürte einen Stich im Herz. Sie konnte kaum in seine dunklen Augen sehen. »Manchmal muss man loslassen«, sagte sie.
»Es hat dich verändert«, stellte Kyle fest, ließ sie los und schob seine Hände in die Taschen des Parkas.
»Was?«

»Dass Thomas gestorben ist und die Zeit danach, deine Mutter – du nennst sie Maike ... «, er seufzte schwer. »Die Zeiten ändern sich, was? Ich meine, sieh mich an.« Er lachte, doch Lara sah, wie er innerlich litt. Er spürte es, er spürte, für sie würde dies hier alles, bald enden.
»Ich arbeite in einem Kindergarten. Und ich liebe meinen Job. Klar, ich geh immer noch Saufen und kann mich montags im Morgenkreis kaum wachhalten, aber ich hab ne Freundin und, fuck man, das aus meinem Mund zu hören, eine Zukunft.«

»Du bist großartig«, sagte Lara und nahm ihn einfach in den Arm. So verabschiedete er sich von ihr, obwohl er nichts von ihrem Plan wusste. Kyle war ihr eben immer ein wahrer Bruder gewesen. Loszulassen tat verdammt weh, musste sie feststellen. Aber mit jedem Tag der verstrich, mit jedem Abschied wurde es unaufhaltsamer. Als wäre die Entscheidung darüber schon längst gefallen. Vielleicht war sie das auch.

Montagabend ging sie ins Dojo und trainierte mit Hanna zusammen.

»Wollen wir mal wieder zusammen ins Kino? Kyle und Cas können ja auch mitkommen«, fragte sie am Ende des Trainings. »Ich bin eigentlich nicht so der Kinomensch«, sagte Lara und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Aber Kyle und Bella gehen bestimmt gerne. Und wir, wir trainieren einfach weiter. Damit du den nächsten Wettkampf gewinnst.«

Hanna lachte. »Gegen dich hab ich sowie so keine Chance.«

Am Dienstagvormittag verabschiedetet sich von ihrem Mathelehrer in dem sie zur Abwechslung mal mitmachte und fleißig mitschrieb. Hinterher zerriss sie die Unterlagen und schmiss die Schnipsel in den nächst Besten Mülleimer. Nachmittag bis abends arbeitete sie bei Herr Gruber und bekam den entsprechenden Lohn. »Sie sollten nach Köln ziehen«, sagte sie zu ihm. »Susi wird dort bald hingehen. Ich glaube, sie würde sich freuen, wenn Sie sie im Krankenhaus besuchen kommen.«
»Wirklich?« Herr Gruber lächelte und fuhr sich durch das graue Haar. »Du bist ein liebes Mädchen, Lara.«
Auf wiedersehen Johannes Gruber, verabschiedete sie sich im Stillen.

Dann kam der Abend und sie saß in ihrem Zimmer über einem Stapel leerer Blätter. Es war Cas Idee gewesen, ihre Gefühle auf Papier zu bringen. Aber es fiel ihr schwer. Sie schwebte mit dem Füller über dem Papier und wartete darauf, dass die Wörter zu fließen begangen. Am Schwersten fiel es ihr, sich von Susi zu verabschieden. Sie wusste noch nicht wie. Vielleicht fiel ihr noch etwas ein, mehr als die paar Zeilen, die sie auf Papier verewigt hatte, aber ihr lief die Zeit davon.

22. Dezember, Dienstagabend. Lara suchte den Reiserucksack ihres Vaters aus dem Keller und fing an zu packen. Nur das Nötigste. Sie konnten Cas Wagen vollpacken, aber würden nicht ewig damit durch die Gegend kurven. Allerdings würde sie eine Autotasche packen, mit den Sachen, die sie irgendwo lagern konnten. Sie suchte sich genug Unterwäsche, T-shirts, warme Pullis und Hosen zusammen, um auf eine lange Wanderung gehen zu können. Lara stopfte auch ein paar Bücher, Mangas und CDs in den Rucksack und machte sich dann daran, die Autotasche zu packen. Dort platzierte sie zum Beispiel ihr Lieblingskopfkissen, noch mehr Bücher, noch ein wenig Wechselkleidung und ihren Trainingsanszug. Ihren Geldbeutel mit Ausweis und Reisepass stopfte sie in die Gürteltasche, die sie immer bei Familienausflügen in die Berge benutzt hatte. Anschließend verstaute sie alles unter ihrem Bett und legte den Brief auf den Rucksack, damit sie ihn später wiederfinden würde. Der Geruch von angebratenen Zwiebeln drang durch die Luke in ihr Zimmer hinauf. Lara legte sich aufs Bett, schaute die kleinen Leuchtsterne an und wartete darauf, bis Maike sie zum Essen rief. Dabei dachte sie über die Zeit nach. Bald wäre sie in der Lage, selbst darüber zu entscheiden, wie sie ihre Zeit gestaltete. Klar, da gab es immer noch Regeln. Sie konnte die Tage nicht verlängern, die Gezeiten des Meeres nicht verändern, oder gar die Zeit anhalten. Aber dennoch würde sie jede einzelne Minute genießen und sich ganz bestimmt, für eine lange, lange Dauer, keinen Wecker mehr stellen. Zeiger sollten unwichtig werden. Wichtig war der Stand der Sonne, die Sterne, die ihr die Richtung wiesen und der Mond, der wundervolle Mond, den sie stundenlang mit Cas anschauen würde, ohne dass sie jemand darin erinnerte, sie hätte keine Zeit mehr, müsse schlafen, essen, zur Schule gehen, geliebte Menschen beerdigen.

»Lara!«, rief Maike. »Abendessen!«

Lara schwieg beim Essen. Maike und Sophie unterhielten sich über ihren Geburtstag, aber das interessierte sie nicht. Lara fühlte sich viel zu aufgewühlt und so langsam machte die Nervosität ihre Beine ganz hibbelig. Mitternacht, ging es ihr durch den Kopf. Mitternacht, Mitternacht, Mitternacht, Mitternacht. Kurz und schmerzlos. Am Bahnhof. Als würde sie einfach in den Urlaub fahren. Nach dem Essen half sie Maike abspülen und schlug dann vor, mit Sophie Twilight anzusehen. Sie hatte ihn zwar schon gefühlte zehn Mal gesehen, aber Sophie, wie alle jungen Mädchen, bekam von Edward Cullen einfach nie genug ...

Sophie bereitete alles vor, während Lara Popcorn in die Microwelle schob. Gesalzen natürlich, nicht gesüßt, wegen der Gesundheit. Man merkte, dass Maike wieder über den Haushalt regierte. Sophie würde das schon aushalten. Sie war ein kleiner Rebell, dass tat ihr selbst und Maike gut. Sie kuschelte sich zu ihrer Schwester aufs Sofa und sah sich Twilight an, während sie in Gedanken bereits die Flucht durchging. Etwa nach dreißig Minuten ertönte ein spitzer Schrei von ... oben. Lara wurde übel.

»Mum?!«, rief sie. Treppengepolter. Ihre Mutter stand an der Türschwelle und hielt den Brief in den Händen. »Scheiße«, dachte Lara nur. »Scheiße, scheiße, scheiße! Was hat Maike überhaupt unter meinem Bett zu suchen?!«

»Du gehst nirgendwo hin, hast du mich verstanden? Nirgendwohin!«

Lara schluckte mehrmals. Sie hatte das Gefühl, der Kloß in ihrem Hals würde sie ersticken.

»Es tut mir leid ... ich ... « Lara stand unbeholfen auf und sah Maike in die Augen. »Ich kann nicht anders. Ich muss das tun ... Sonst, sonst zerreiße ich!«

»Garnichts musst du!«, schrie Maike und packte Lara an den Handgelenken. »Wir sind eine Familie! Du gehörst zu uns! Du wirst hierbleiben und mit uns allen nach Köln fahren!«

»Nein, das werde ich nicht«, sagte sie kühl.
Maikes Knopfaugen füllten sie mit Tränen. Es ist vorbei, dachte Lara. Sie konnte nicht bleiben, egal was jetzt geschah. »Du bleibst!«, rief sie hysterisch. »Du bist meine Tochter, was fällt dir ein? Du gehst zur Schule, du hast eine Verpflichtung! Dein Vater ist gestorben und was macht du? Du denkst du müsstest rebellieren, Jetzt?! Das ist egoistisch, junge Dame!«

»Egoistisch ist es, sich zu besaufen, bis man nur noch kotzt und sich dann die Pulsadern aufzuschneiden«, zischte sie. Das saß. Maikes Augen weiteten sich, sie ließ Lara los und machte einen Schritt zurück. Laras Herz verkrampfte sich, als Sophie aufsprang und zu ihrer weinenden Mutter lief. So ist es gut, sie gehören zusammen, dachte sie und wollte an ihnen vorbeilaufen, doch Maike schien aus ihrer Starre erwacht zu sein. Sie packte ihre Adoptivtochter so grob am Arm, dass Lara sie nur anstarrten kommen. Maike zerrte sie kurzerhand ins Bad und schloss sie ein. »Denk darüber nach, was du uns antust!«, schluchzte sie. »Du wirst morgen ganz sicher nicht mit diesem Cas abhauen!« 

Dann wurde es still. Viel zu still.

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