-05- Von verwelkenden Ärzten und verregneten Begegnungen

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Die Ärztin, Frau Klein, eine Frau, die aussah wie eine verwelkende Blume, graues Haar, ewige Augenringe und Brüste die so sehr hinabhingen, dass es unter ihrer blaugrünen Dienstkleidung aussah, als seien sie überhaupt nicht vorhanden, sondern nur eine zusätzliche Fettschicht, sprach vor der Tür mit ihrer Mutter.

Lara sollte bei ihrer Schwester bleiben und sie beruhigen. Dabei bräuchte sie gerade selbst jemanden, der sie beruhigte. Außerdem wollte sie wissen, was Frau Klein zu sagen hatte.

Sie strich Sophie über die Haare. Ihre kleine Schwester stand bang vor dem Bett und sprach kein Wort. Ihre schmalen Finger krallten sich in das weiße Laken. Die Minuten des Wartens zogen sich ewig. Als ihre Mutter das Krankenzimmer wieder betrat, sah sie zerstört aus. Als wäre sie von innen heraus zerbrochen und alle Farbe entwich ihr nur aus zahlreichen Rissen.
»Er liegt im Koma«, brachte sie hervor. Sie sah zu Lara, nicht zu Sophie, als könnte das kleine Mädchen neben ihr die Worte nicht begreifen. »Die Hirnaktivität ist nur noch sehr gering.«
Lara drückte Sophie feste an sich. Sie wollte nicht, dass sie es aussprach, nicht vor ihr. »Wir können nur abwarten«, sagte sie und verschwieg, was sie eigentlich hatte sagen wollen: »Er wird wahrscheinlich nie mehr aufwachen.«

Lara hatte in Bio genug aufgepasst und zu genüge Scrubs und Grey's Anatomy angeschaut, um das zu wissen. Oder? Verdammt, sie musste es wissen, sie musste es doch hören. Klare Tatsachen. Fakten. Hoffnung tat weh, wenn sie nicht wahr werden konnte. Lara ließ ihre Schwester los und stürmte aus dem Zimmer.
»Dr. Klein?«, rief sie der alten Frau hinterher, die schwerfällig den Gang hinunterlief. Die Frau drehte sich um. Lara kam auf sie zu und blieb unmittelbar vor ihr stehen.
»Wird er wieder aufwachen?«, platzte es aus ihr heraus. »Gibt es eine Chance?« Frau Klein seufzte.
»Du bist die älteste Tochter?« Sie hob fragend die Augenbraue. Natürlich tat sie das. Sie sah nicht aus wie die Tochter von Thomas Kuhn.
»Ja, ich wurde adoptiert«, sagte sie, nur schwer die Wut und Panik unterdrückend, die in ihrem Magen brodelte und langsam anschwoll.
»Ich möchte ehrlich mit dir sein, Kleines«, sagte Frau Klein und schüttelte langsam den Kopf. »Es ist sehr unwahrscheinlich. Wenn die Hirnaktivität noch weiter abnimmt und sich in den nächsten dreißig Stunden nichts mehr daran ändert, müssen wir ihn für hirntot erklären.«
Dreißig Stunden, hirntot ...

Laras Magen verkrampfte sich schmerzhaft.
»D-danke ... «, brachte sie hervor, wusste aber nicht, wofür zur Hölle sie sich bedankte. Ihr wurde schwindelig und heiß.
»Kleine, bist du okay?«, fragte Frau Klein die überflüssigste Frage auf der ganzen, scheiß Welt!
Laras Kehle schnürte sich zu. Sie brauchte Luft, einfach nur frische Luft.

Sie nickte und ging langsam an der Ärztin vorbei. Jeder Schritt fühlte sich an wie Blei, doch als sie das Treppenhaus erreichte, stürmte sie die steilen Stufen nach unten. Der Geruch von Putzmittel bohrte sich ihr in die Nase und ihr wurde kotzübel. Sie rannte durch den Empfangssaal, vorbei an dem Tresen und bunten Stühlen und Tischen mit Zeitschriften, die keiner lesen wollte, durch den Hauptausgang, hinaus in die Nacht.

Es regnete leicht und die kühle Luft umfing sie wie ein nasses Handtuch. Sie lief ein Stück und stützte sich an einer Straßenlaterne ab, die den Weg zum Parkhaus beleuchtete. Lara sog die frische Nachtluft in ihre Lunge. Doch es vertrieb die Übelkeit nicht im Geringsten und so konnte sie sich nur nach vorne beugen und versuchen nicht zu würgen.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte eine männliche Stimme hinter ihr. Lara wischte sich mit der Kunstlederjacke über die Stirn, taumelte ein paar Schritte nach hinten und wandte sich zu der Stimme um.
»Es geht«, stöhnte sie und schaute in Augen, die im Licht der Laterne aufleuchteten wie kleine Saphire. Sein dunkles Haar verschwamm mit der Nacht und schien mit dem Regen auf den Asphalt zu tropfen. »Cas?«
»Du?« Er hob die Brauen. »Was machst du hier?«
»Versuchen mich nicht zu übergeben«, antwortete sie ihm auf diese dämliche Frage und schlang die Arme um ihren zitternden Körper.
»Ja, das habe ich gesehen«, erwiderte er. »Brauchst du einen Arzt?« Lara hob verwundert die Brauen.
»Nein.«
»Gut«, er biss sich auf die Unterlippe. Sein blasses Gesicht schien im Dunkeln zu leuchten. »Ich muss hier weg«, sagte er und musterte sie einen Moment von oben nach unten. »Vielleicht solltest du dich hinsetzten, drinnen gibt es Stühle.« Er zog die Schultern hoch. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, er zog den Reißverschluss seiner dunkelblauen Windjacke bis zum Hals hoch und lief einfach an ihr vorbei. »Pass auf dich auf«, murmelte er beim Vorbeigehen und verschwand aus dem Licht der Straßenlaterne.

Lara blieb verwirrt zurück und fragte sich, was Cas hier gewollt hatte. Jemanden besuchen, oder war er selbst krank? Ich muss hier weg. Als würde er vor etwas davon rennen. Vielleicht vor der falschen Luft. Lara würde auch gerne wegrennen. Aber das würde die Situation nicht verändern und im Endeffekt nur verschlimmern. Sie stand im Regen, legte den Kopf in den Nacken und ließ die Tropfen auf ihr Gesicht fallen, bis ihr so kalt war, dass ihre Zähne vom Zittern aufeinanderschlugen.

Durchnässt kehrte sie in das Zimmer ihres Vater zurück. Ihre Mutter kauerte auf einem Stuhl, den Kopf auf das Bett gelegt. Sophie hockte auf dem Boden und weinte leise vor sich her. Lara nahm ihre Hände und zog sie hoch.
»Nicht weinen.« Sie strich ihr die Tränen von der Wange und schaute anschließend zu ihrer Mutter. »Mum?« Sie zuckte zusammen, richtete sich auf und schaute zu ihr. »Können wir nach Hause? Sophie muss ins Bett.« Maike rieb sich über die Augen.
»Ja. Ja natürlich.« Sophie schüttelte wild den Kopf, bis ihr braunes Haar in alle Richtungen flog.
»Ich will bei Papa bleiben!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ist schon gut«, sagte Maike und stand auf. Ihre Haare waren verwuschelt und die Augen vom Weinen angeschwollen. »Wenn Papa aufwacht, ruft uns das Krankenhaus an und wir fahren sofort hin.«
»Ich bleibe hier!« Sophie legte ihre Arme auf das Bett ihres Vaters und schniefte.
»Ach Sophie«, stöhnte Maike. Lara sah, wie erschöpft sie war. Mit dem Nerven am Ende.
»Sophie«, sagte sie zu ihrer kleinen Schwester. »Papa braucht ein bisschen Ruhe, um sich zu erholen. Wir können morgen früh gleich wiederkommen.« Sophie schaute auf.
»Was ist mit Schule?«
»Ihr müsst morgen nicht in die Schule«, sagte ihre Mutter und nahm Sophie an die Hand. »Komm.«
Sophie nickte langsam und zu dritt verließen sie das Krankenhaus wie müde Krieger, die bereit waren, sich an jeden Halm Hoffnung zu klammern.

In dieser Nacht konnte keiner schlafen. Sophie kam um halbeins zu Lara in das Doppelbett gekrochen, das unter der Dachschräge stand und sie schauten sich bis zum Morgengrauen DVDs von Hannah Montana auf ihrem kleinen Röhrenfernseher an.

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