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Lara wartete eine Stunde. Dann rief sie ihn an. Er nahm nicht ab. 

Hime kam vorbei und bestellte sich einen Kaffee mit Vanille. Sie legte ein schweres Buch mit japanischen Schriftzeichen auf den Tisch und bat Lara, sich zu ihr zu setzten. Sie redeten kurz über ihren Vater. Hime legte ihre kleinen, asiatischen Hände auf ihre und sah sie aus dunklen Augen an. »Wenn du reden möchtest, mein Ohr steht dir immer zur Verfügung.« Sie lächelte und zeigte ihr anschließend Bilder von einem japanischen Segelschiff und erzählte ihr die Geschichte, eines jungen Mannes, der um die Welt segelte, auf der Suche nach der Wahrheit und wie er, einsam unter den Sternen, seine Freiheit fand. Lara dachte an Freiheit und fragte sich, wie es wäre, selbst auf so einem Schiff zu segeln. Könnte sie vor dem Schmerz davon fahren? Wohl eher nicht. Dennoch, auf einem Schiff hatte man Zeit und mit der Zeit heilten Wunden. 

Lara vermisste den Sturm. Der Wind würde ihre Schreie mitreißen und in der Nacht, in der Nacht würden die Sterne ihr antworten, auf ihre schweigsame Art und Weise. 

Und keiner würde sie fragen, wie es ihr ging und ob sie klar kam. Denn am Ende waren das nur leere Höflichkeiten, um das eigene Gewissen zu beruhigen. 

Wer half Lara schon wirklich? Kyle wuselte ständig um sie herum, dafür war sie ihm sehr dankbar, aber sie sehnte sich im Moment nach ein wenig Ruhe. 

Hime trank ihren Kaffee leer, drückte kurz Laras Schulter und ging dann wieder. Die Stille legte sich über sie und mit ihr kamen die Einbildungen. Sie roch das Parfüm ihres Vaters und hörte in den Stimmen der Leute, die am Wunderkästchen vorbeiliefen, seine Rufe: »Hey, Lara, lass uns Eis essen.« Oder: »Lara, ich komme, um deine Schicht abzulösen.« Doch er kam nicht, würde nie mehr kommen. 

Susi kam. Aber das brachte nichts Gutes. Denn sie platzte mit gewaltiger Wut in den Laden, Sophie im Schlepptau, die heulend in der Küche verschwand. »Das geht zu weit!«, rief sie und fuhr sich durch ihre Haare. »Mein Gott!« Sie seufzte laut und schaute dann zu Lara, die unschlüssig neben einem Regal mit Meditationsmatten stand. »Ihr kommt mit zu mir nach Hause. Es ist zwar eng, wird aber irgendwie gehen.«

Lara atmete tief ein, hielt die Luft an und fragte: »Was ist passiert?« Erst dann entließ sie die Luft langsam wieder aus ihren Lungen.

»Ach, Süße.« Sie drückte Lara an sich. »Ich kann einfach nicht mehr mitansehen, wie eure Mutter sich besäuft und euch alleine lässt. Sie ist so wütend.«

»Was ist passiert?«, fragte Lara erneut.

Susi ließ sie los und stellte sich kopfschüttelnd hinter die Kasse. »Sie hat die halbe Wohnung auseinandergenommen! Die arme Sophie war total verängstigt.«

Lara spürte Wut in sichhochsteigen. Die Muskeln in ihren Händen zuckten und sie ballte sie zu Fäusten.»Es reicht«, sagte sie entschlossen, schnappte sich ihren Rucksack und verschwandaus dem Laden, bevor Susi sie aufhalten konnte. Im Laufschritt eilte sie durchdie Straße zur Bushaltestelle im Zentrum. Ihre Mutter musste sich dochzusammenreißen können. Schließlich hatte sie eine verdammte Verantwortung.Ihnen ging es allen dreckig.

Die ganze Busfahrt lang überlegte sie, was sie Maike sagen konnte, wie sie sieerreichen konnte. Man musste diese Frau ja irgendwie wieder zu Besinnungbringen. Aber ihr viel nichts Gutes ein. Scheiße, schließlich war sie keinePsychologin, oder Sozialarbeiterin. Sie brauchte nur fünf Minuten von derHaltestelle, durch den kleinen Park, bis vor ihre Wohnung. Der Briefkastenquoll über. Rechnungen, die bezahlt werden musste. Lara steckte sie sich ein.Ihre Mutter würde wohl kaum in der Lage sein, sich darum zu kümmern. Als siedie Wohnungstür im oberen Stockwerk öffnete, stieg ihr sofort der Geruch vomErbrochenem in die Nase. Am liebsten wäre sie umgedreht und gerannt. Gerannt,gerannt, gerannt, bis ihre Knie nachgaben. Doch sie tat es nicht und trat in dendunklen Flur.

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