Als Lara erwachte, war Cas nicht mehr da. Die Abendsonne strömte sein warmes Licht durch das Fenster. Sie lag einfach nur da, atmete ein und aus. Ein Arzt kam, machte Visite - sie ließ es über sich ergehen. Neben ihr, auf dem Boden, stand eine kleine Tasche und darauf lag ein Zettel. Sie hob ihn auf und las: Hallo Lara, hier sind ein paar Sachen, Kleidung, Bücher zum lesen und so weiter ... Wir, Sophie, Kyle und ich, waren vorher da, aber du hast geschlafen wie ein Stein. Aber keine Bange, wir kommen Morgen wieder.
Gute Besserung, Kleine
Susi.
Lara lächelte ein wenig und zog eines der Bücher heraus. Es war neu, das konnte sie riechen. Sie fuhr mit dem Fingern über den Titel »Numbers«.
Das Cover schimmerte schwarz und auf den weißen Buchstaben, standen lauter Ziffern und Zahlen.
Lara fing an zu lesen, aber sie kam nicht weit. Die Lider wurden ihr schon wieder schwer und sie wehrte sich nicht gegen den Schlaf.
Er sollte kommen und sie mit sich ziehen. Irgendwohin, wo sich alles nicht so schwer anfühlte. Aber sie träumte nicht, irgendwie gab es nur Schwarz um ihren Körper. Ein Ich, schwerelos im nichts. Kein Raum, keine Zeit. Nicht mal Sterne, sondern nur ein ewiges Treiben. Sie wusste nicht wohin. Wo war das Ziel, das Licht? Wo fing alles an und hörte alles auf? Aber in der Dunkelheit gab es keinen Anfang und kein Ende, sondern nur das große JETZT. Und in ihm vermischte sich alles. Alle Tage, Wochen, Jahre, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, jedes Land, jeder Kontinent, die Welt und die Sterne, all die Sterne, zusammengemixt in endloser Leere.
Lara fragte sich, ob sich eine Leiche, wenn sie denn etwas spüren würde, sich so in ihrem Grab fühlte.
Unter Tonnen von Erde ... verschollen, vom Tageslicht getrennt.
Aufeinmal bekam sie Panik. Sie atmete die Dunkelheit ein und hatte das Gefühl, sie würde ersticken.
Lara streckte ihre Hände aus, Hände die sie nicht sehen konnte, als hätte sie überhaupt keinen Körper, als würde sie sich auflösen.
Aber sie wollte bleiben, nicht wie Staub zerfallen, nicht im See verbrennen wie die Mondfeen.
Lara wünschte sich eine Hand, die nach ihr griff und sie aus der Dunkelheit zog. Irgendjemand. Sie wollte aufwachen, einfach nur aufwachen. Und dann explodierte das Feuer in ihrer Brust. Ein helles Licht ging von ihrem Herzen aus und verdrängte die Dunkelheit.
Ihre Lider klappten auf. Einfach so, ohne dass sie es hätte steuern können.
Keuchend setzte sie sich auf. Jemand fuhr ihr durch die Haare, hielt ihre Hand.
»Alles okay, Lara. Du hast nur geträumt.« Sie schaute auf und sah sein Gesicht, welches im schwachen Licht des Mondes leuchtete. »Cas ... «
Cas Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Willst du immer noch hier raus?«, fragte er.
Lara runzelte die Stirn. »Wie spät ist es?«
»Halbzwölf.«
»Wie bist du hier reingekommen?«
»Na ja, ich hab so eine Art Sondererlaubnis und darf über Nacht bleiben, wegen meiner Mum.«
»Oh.« Lara setzte sich auf und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn.
»Ich bring dich hier raus, wenn du willst. Für heute Nacht.« Er biss sich auf die Unterlippe.
»Wirklich?«Er nickte.
»Dann bring mich hier weg.«
Cas stand auf, zog einen Schal, eine Mütze und einen schweren Mantel aus einem Rucksack und packte sie warm ein. Lara ließ ihn machen. Sie genoss die Art wie er sie anzog, versucht, sie so wenig wie möglich zu berühren. Das machte seine Berührungen sanft und warm. Ein Kribbeln fuhr durch ihren Körper. »Kannst du aufstehen?«, fragte er, als er fertig war.
Lara nickte und schob ihre Beine aus dem Bett. Doch als sie stand, gaben sie nach und Cas musste sie festhalten. »Mist«, fluchte sie.
Cas lachte leise. »Das ist nicht schlimm.« Er schob seine Arme unter ihre Knie und die Schulterblätter und hob sie hoch.
Lara hielt sich an ihm fest und dann trug er sie aus dem Krankenhaus. Sie spazierten einfach so heraus, als wäre es das normalste auf der Welt, mitten in der Nacht aus einem Krankenhaus zu spazieren.
Nur einmal mussten sie sich im Treppenhaus verstecken, als ein Arzt vorbeikam.
Cas keuchte und unterdrückte gleichzeitig ein Lachen. »Du kannst mich runterlassen«, flüsterte Lara, die sah, wie er sich bereits abmühte. »Vergiss es«, sagte er und fing an ,mit ihr die Treppen hinabzusteigen.
Lara legte ihre Arme um seinen Nacken und versuchte ganz leicht zu sein. Natürlich war das total unsinnig, sie konnte sich nicht leichter machen, als sie war. Aber dennoch stellte sie sich vor, sie wäre leicht wie eine Feder und sie würden nur so die Treppe hinabschweben.
In Wahrheit polterten sie die Treppe hinunter und Lara hatte Angst, sie würden das ganze Krankenhaus aufwecken. Draußen empfing sie eisig kalte Luft wie eine Wand, die sie durchbrachen und sie aufweckte, lebendig machte.
Sie sog alles in sich ein. Der Duft nach feuchtem Gras und Schnee. Cas trug sie zu seinem Ford und setzte sich vorsichtig auf den Beifahrersitz. Er blieb noch einen Moment stehen und schaute in den Nachthimmel. Dann stieg er selbst ein und fuhr los.
Lara lauschte auf das gleichmäßige Surren des Wagens und sog den Duft von altem Leder, Lavendel und Rasierwasser ein. »Wie fühlst du dich?«, fragte Cas und hielt an einer roten Ampel. Die Lichter der Straße umhüllten sie von allen Seiten.
»Ein wenig benebelt.« Sie gähnte und fuhr über den Stoff des Mantels. Er roch nach ihm, nach Wald und wilden Beeren.
»Cas, bist du manchmal im Wald?«
Cas blinzelte und schaute kurz zu ihr herüber. »Ja, manchmal, wieso?«
»Deine Sachen riechen danach.«
»Oh ... « Es wurde grün und Cas fuhr weiter. Trotz des mäßigen Verkehrs um die Uhrzeit, schien er außerordentlich konzentriert. »Ich mag den Wald«, sagte er. »Das Flüstern der Bäume im Wind, ihre Stärke und Beständigkeit.«
»Ich mag es vor allem im Herbst«, sagte Lara. »Wenn alles golden und rot leuchtet und die Wege voller Laub sind. Wenn der Wind an den Ästen rüttelt, ist es ein wenig wie Musik.«
Cas schaute sie an und für einen Moment schien er die Straße vor ihm völlig zu vergessen. In seinen blauen Augen leuchtete etwas auf; ein Schimmer der Anerkennung.
»Cas, die Straße!«»Sorry.« Er blickte wieder geradeaus. Sie fuhren in Richtung See. Lara konnte das Wasser schon aus der Ferne sehen.
Die leuchtende Stadt spiegelte sich darin. Hinter ihr lagen die Berge und vor ihr Städte, die sich am See entlangstreckten. Cas parkte auf einem der Kiesparkplätze, bei denen man zahlen mussten. Nachts spielte das allerdings keine Rolle. Nachts schien alles kostenlos und die Welt offenbarte sich einem, als eine andere. Geheimnisvoll, fast wie eines dieser Gedichte, die man nicht auf den ersten Blick entschlüsseln konnte. Die Welt gewann an Tiefe.
Cas schaltete den Motor ab und einen Moment saßen sie im Halbdunkeln. Seine Hand berührte ihre und in ihrem Magen begann es zu flattern und zu kribbeln.
»Ich hab ihr gesagt, sie kann gehen. Dass es gut ist, dass sie genug gegeben hat, dass es Zeit ist ... ich glaube sie wird gehen, heute Nacht.« Er ließ ihre Hand los, öffnete die Wagentür und stieg aus.
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Scherbenbild
General FictionLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...