Donnerstag. Cas saß bei seiner Mutter, wie die Tage zuvor. Das kranke, neue Herz schlug, zwar schwach, aber es schlug, pumpte Blut durch die Orange, die langsam den Geist aufgaben. An ihrem Bett hingen zahlreiche Beutel mit unterschiedlichen Medikamente, die ihr helfen sollten, es aber nicht taten. Immerhin musste sie nicht mehr beatmet werden und trug nur zwei kleine Schläuche in ihrer Nase. Ihre Lunge hielt durch.
»Er sieht ihr beim Sterben zu«, hörte Cas die Krankenpfleger flüstern.
Tat er das? Wieso starb sie dann nicht? Er hielt ihre Hand, die sich warm anfühlte und warme Hände, bedeuteten Lebendigkeit. Doch seine Mutter war nicht lebendig. Es war nur ein Betrug, ein Scheinbild, an das sich Cas nur zu gerne klammerte. Das schlimmste daran war, Cas wusste, er belog sich selbst. Sie würde sterben, vermutlich nie mehr die Augen öffnen und dennoch sprach er mit ihr, als könnte sie jeden Moment aufstehen und gesund sein.
»Ich möchte sie wiedersehen«, sagte er zu ihr. »Wir könnten ja zusammen zu Subways gehen. Da will ich mich sowieso bewerben. Die suchen eine Aushilfe, für die Abende. Und wenn ich nach Hause komme, bringe ich uns war zu essen mit und Lara am anderen Morgen in die Schule. Dabei weiß ich noch nicht mal, ob Lara Subway mag. Aber Schokokekse mag sie bestimmt. Wer mag keine?« Cas verstummte, schaute eine ganze Weile auf den Herzmonitor und kam sich plötzlich allein in diesen Raum vor. Es gab viele Theorien darüber, ob ein Komapatient hören konnte, was um ihn herum geschah, aber Cas glaubte, seine Mutter würde nicht zuhören. Sie hatten ihr letztes, richtiges Gespräch wohl schon geführt. Schon vor einer ganzen Weile. Er erinnerte sich noch genau daran.
Vor ungefähr fünf Monaten. Ein schöner Junimorgen. Seine Mutter lag im Krankenhaus, weil sie sich eine Infektion eingefangen hatte und nur schlecht Luft bekam.
Cas sagte extra seinem Kumpel ab, der ein wichtiges Kartentunier hatte, um bei ihr sein zu können. Er stand ziemlich lange vor dem Krankenhaus und atmete den Geruch von Kirschblüten ein.
Die frühen Sonnenstrahlen erwärmten sein schwarzes T-shirt und er überlegte, wie er die Leichtigkeit des Frühlings einfangen und seiner Mutter geben konnte.
Doch das konnte er nicht, denn der Frühling war vergänglich. Cas sah eine Wolke am Himmel vorbeiziehen, die ein wenig einem Drachen ähnelte. Wäre immerzu Frühling, gäbe es irgendwann nichts mehr besonderes daran.
Wenn man den Sommer, den Winter und den Herbst nicht kannte, konnte man den Frühling auch nicht kennen, nicht verstehen, was ihn einzigartig machte. Cas wollte, dass seine Mum noch viele Sommer, Herbste, Winter und Frühlinge miterlebte. Er ging zu ihr auf die Infektionsstation und setzte sich auf einen Drehhocker. »Hi, Mum«, begrüßte er sie.
»Hallo, Schatz.« Sie lächelte. Müde, aber sie lächelte – das tat sie selten genug. »Du hättest nicht sofort herkommen müssen.«
»Doch.« Er nahm ihre Hand. »Wie geht es dir?«
»Es geht schon. Mach dir keine Sorgen.«
»Mum.« Cas seufzte. »Bitte sei ehrlich. Ich kann auch einfach die Ärzte fragen, also ... «
Das Lächeln auf Neles Lippen verschwand. Sie schaute aus dem Fenster seitlich von ihrem Bett. Man konnte nicht viel sehen, nur die Betonwand eines anderen Gebäudes. Die Blumentöpfe auf den winzigen Balkonen stellten das einzig ansehnliche da.
»Ich glaube, es geht langsam zu Ende«, sagte sie. Dabei lag so ein friedvoller Ausdruck in ihren Augen, dass in Cas die Wut hochkochte. Das Ende war noch lange nicht in Sicht.
»Sag sowas nicht. Wir finden schon ein Spenderherz!«
Nele drehte den Kopf hin und her. »Vielleicht musst du bald ohne mich leben. Das kannst du, ich weiß das.«
»Rede keinen Unsinn!« Cas sprang vom Drehstuhl. »Noch redet keiner über deinen Tod. Alle haben Hoffnung, nur du nicht!«
»Meine Hoffnung gilt einem anderen Ort, Cas.«
Er verstand nicht, was sie damit meinte. Das Jenseits? Aber sie war noch lange nicht soweit.
»Du bist hier, Mum. Und dein Herz schlägt. Ich sorge dafür, dass es weiter schlägt.«
»Wenn ich nicht mehr da bin«, redete sie einfach weiter, aber Cas drehte sich um. Er wollte das nicht hören. »Cas, sieh mich an«, bat seine Mutter. Er starrte zur Tür.
»Cas!«, sagte sie lauter. Nur die Stimme zu erheben strengte sie an und sie musste keuchen.
»Hör auf dich wie ein dreizehnjähriger Teenie zu verhalten und hör deiner Mum zu!«
Cas ließ die Schultern sinken, schluckte seinen Ärger hinab, wie er es sonst auch tat und setzte sich wieder zu ihr. »Also«, sagte sie. »Falls ich bald nicht mehr da sein sollte, dann darfst du traurig sein, für eine Weile. Aber nicht für immer. Lass dein Leben nicht von dieser Finsternis steuern. Du hast noch so viel vor dir.« Cas holte Luft, um zu widersprechen, aber sie hob die zitternde Hand. »Du wirst ein Mädchen kennenlernen. Sei ein Gentleman, aber ehrlich. Spiel ihr nichts vor, das musst du nicht, du bist ein toller Mensch. Und bitte, benutzt Kondome, bis ihr euch sicher seid, dass ihr Kinder wollt.«
»Mum!« Cas verdrehte die Augen. »Sag mir das, wenn es soweit ist und schenk ihr dann Bücher über Babys, oder Schnuller ... «
Nele atmete schwer. Ihr Blick wanderte Richtung Decke. Das tat sie in letzter Zeit häufiger. In diesen Momenten schien es, als wäre sie überhaupt nicht mehr richtig da. »Sei tapfer«, sagte sie. »Okay? Ich liebe dich, ich will dich glücklich sehen. Schmerz gehört dazu, das ist normal. Aber lass dich davon nicht unterkriegen, ja? Gib niemals auf. Niemals, hörst du? Für dich gibt es noch so viel ... « Sie schloss die Augen und verstummte.
Fünf Monate später saß Cas vor ihrem Bett, hielt ihre unbewegte Hand und fragte sich, warum es für sie nicht mehr viel gab. Warum sie aufgab und er weiterkämpfen musste?
Wie lange konnte er das überhaupt noch? Für sie kämpfen ... ?

DU LIEST GERADE
Scherbenbild
Ficção GeralLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...