-41-

157 25 0
                                    

Cas schob sein Bein zwischen ihre und er legte sein Kinn auf ihren Kopf. »Gute Nacht«, murmelte er. Und dann wurde es eine ganze Weile lang still. Lara schloss die brennenden Augen, lauschte seinem Herzschlag und ließ sich langsam Richtung Schlaf sinken. Alles fühlte sich schwer an, aber ein gute Schwere, eine bewahrende, beschützende Schwere, gepaart mit einem Gefühl der Sicherheit. Bevor sie endgültig in den Schlaf hinabsinken konnte, fing Cas an, leise zu Flüstern. Und sie ließ ihn erzählen und machte keinen Murks.

»Sie hat mir ein Märchen erzählt, als ich jünger war. Sie war krank, schrecklich krank, daran kann ich mich erinnern. Ich musste elf gewesen sein. Meine Mum hat gezittert, wegen dem Fieber und am anderen Morgen ist sie wieder zur Arbeit gefahren, weil wird das Geld brauchten und alleine waren. Allein, auf dieser Welt ... Doch in der Nacht, hat sie mir dieses Märchen erzählt, weil sie nicht schlafen konnte und ich auch nicht. Also lag sie auf dem Sofa und ich kauerte mich ganz am Rand und horchte auf ihren schnellen Atem.« Cas räusperte sich. Seine Stimme vibrierte in Laras Unterbauch. »Sie hat von einem Jungen erzählt, der ganz alleine im Gras vor einer Klippe saß. Die dunklen Wolken über ihm, flüsterten ihm immer das selbe zu und der Regen, der auf ihn hinab und weiter auf die graue Masse des Meeres hinabfiel, durchdrängten ihn und alles um ihn herum mit dem selben Wunsch. Für immer von dieser Welt zu verschwinden ... «

Lara zuckte bei diesen Worten zusammen und drückte ihren Kopf fest an seine Brust.

»Du bist wach?« Cas legte seine Lippen auf ihre Stirn und nuschelte fast unverständlich: »Zuerst habe ich gedacht, sie wollte sterben ... aber sie hat weiter erzählt.« Er löste seine Lippen von ihrer Stirn und bettete seinen Kinn wieder auf ihren Kopf. »Es ist ein Märchen voller Magie und erst viel später, habe ich begriffen, von wem diese Geschichte eigentlich handelte. Aber diese Geschichte hat ein trauriges Ende und ich bin mir sicher, ich hätte sie nie hören soll. Es war das Fieber, welches sie dazu gebracht hat, mir das alles zu erzählen. Dieses Fieber, der erste Schritt Richtung Tod. Die Herzkrankheit - dilatativen Kardiomyopathie – das musst du dir nicht merken, kann erblich bedingt sein. Keine Angst, sie trug es nicht in ihren Genen. Sie hat nur einfach nie auf sich aufgepasst und war immer häufiger krank, und irgendwann ist es auf ihren Herzmuskel übergegangen.« Er seufzte schwer und tief. Lara löste sich von seiner Brust, legte den Kopf in den Nacken und sah ihn an. Sie konnte die Konturen seines schmalen, scharfkantigen Gesichts erkennen und das Blau seiner Augen nur erahnen. »Erzählst du mir das Märchen?«, fragte sie.

»Mit der Zeit ... «, murmelte er.

»Zeit ... « Lara schloss die Augen und fuhr mit drei Fingern seine muskulöse Brust entlang. »Ich möchte die Welt umstellen und eine neue Zeit erschaffen. Unsere Zeit, wie wir sie wollen ... «

»Ich glaube, das wollte der Junge aus dem Märchen auch«, sagte Cas und gähnte. »Er hat vergessen, wer er war und alles was er spürte, war Schmerz und der Wind, der die Jahrhunderte mit sich nahm. Denn der Junge war alt und gleichzeitig jung. Er sprang und als er sprang, fühlte es sich so an, als könnte er fliegen. Doch er flog nicht, sondern eiskaltes Wasser umfing ihn, so kalt, dass er für einen Moment überhaupt nichts spürte. Als hätte das Meer alles weggespült. Jedes Gefühl, all den Schmerz ... doch er konnte davor nicht fliehen und als die Kälte mit Gewalt auf seine Haut traf, fing er an mit Armen und Beinen zu rudern, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Denn die Dunkelheit machte ihm Angst.« Laras Herz fing an zu rasen. Übelkeit kroch in ihr hoch, schien aus ihrem Innersten zu kommen. Sie richtete sich kerzengerade auf. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und sie presste die Hand auf ihre Brust. »Lara?« Sie spürte Cas warme Finger auf ihre Schulter.

»Wir müssen zum See«, keuchte sie und stolperte aus dem Bett. »Jetzt, sofort!«

Cas schaltete die kleine Nachttischlampe in Form eines Eisberges an und sah sie stirnrunzelnd an. »Ich erinnere mich«, sagte Lara. Ihr Herz pochte laut auf und das Echo des Schlages vibrierte in ihrem Körper. »Du ... erinnerst dich?« Cas wurde von einer Sekunde auf die nächste leichenblass.

»Dort unten liegt ein Geheimnis. Unser Geheimnis. Das von meinem Dad und mir. Ich war erst sechs Jahre alt und habe ständig nach meinen leiblichen Eltern gefragt. Er hat es mir erzählt und das Geheimnis verschlossen. Und ich habe es vergessen, weil ich es vergessen wollte. Weil die Welt rosarot und warm bleiben sollte und weil es nicht in das Bild passte, was ich von meinen Eltern hatte. Aber alles ist zerbrochen, auseinandergefallen, Cas.« Sie taumelte nach hinten, ließ sich gegen die Schlafzimmertür fallen. »Ich dachte ich würde dort unten die Wahrheit finden. Warum das alles passiert und ich dachte, mein Herz müsste aufhören zu schlagen, nur für einen Moment. Die endlose Stille ... Ich wollte nicht sterben.« Cas sprang aus dem Bett, als hätten ihn zehn giftige Schlange gebissen. Er blieb mitten im Raum stehen und starrte mit großen Augen auf sie hinab.

»Nur für einen Moment ausruhen... «

Er kam langsam auf sie zu, kniete sich zu ihr und nahm ihre Hand in seine.

Lara spürte einen starken Druck hinter ihrer Brust, als sich alles wieder in ihr Bewusstsein drängte. »Es tut mir leid ... « Ihre Lippen bebten so sehr, dass ihr Stimme nur ein verzerrtes Etwas abgab, das in der Stille des Raumes erstickte und an Bedeutung verlor. Cas hatte den Kopf sinken lassen, sein schwarzes Haar lag über seinem Gesicht wie ein Vorhang.

»Weißt du«, sagte er sehr, sehr leise. »Du bist mir wichtig. Und ich habe gemeint, was ich in der Nacht im Wald gesagt habe.« Er schluckte hörbar und als er weitersprach, klang seine Stimme fester, lauter. »Wir haben beide etwas verloren und es wird nie mehr zurückkommen. Wir sind zerbrochen, aber da ist ein dünner Faden, der irgendwie alles zusammenhält und du bist die Person, für die ich leben möchte.« Er sah auf und seine Augen glänzten.« Er öffnete den Mund, als ob er noch etwas sagen wollte, aber er schien keine Worte zu finden, oder brachte sie nicht über seine Lippen.

In Lara breite sich ein Gefühl aus, welches sie beinahe überwältigte. Wie eine Sonne, die in ihrem Herzen aufging und alles erwärmte. Und diese Sonne war gleichzeitig eine Blume, eine Blume, mit festen Wurzeln, die sich in ihr inneres bohrten und ihre Venen und Adern durchwanderten. Sie drückte Cas Hand so fest sie konnte und spürte seine Wurzeln in ihr und ihre Wurzeln in ihm. »Wir sind eine wunderschöne Blume«, flüsterte sie und da nahm er sie in den Arm und hob sie hoch. Er trug sie ins Wohnzimmer, setzte sie vorsichtig ab und deutete auf das Stoffknäuel auf dem Boden. »Zieh dich an, wir gehen.«

Lara blinzelte. »Wohin?«

»Zum See, wo ich dich gefunden habe.«

ScherbenbildWo Geschichten leben. Entdecke jetzt