Cas Alptraum

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Er saß in einem Wald. In einem wunderschönen Wald, voller Wildblumen und Sträuchern mit Erdbeeren und Himbeeren. Die Äste einer jungen Eiche spendeten ihm Schatten. Das Licht der Morgensonne brach sich durch die Blätter und zeichnete ein Karomuster auf den mit moosbewachsenen Waldboden. Es roch würzig, nach Wurzeln und Erde, aber auch süßlich, nach den Blumen und Beeren. Cas erhob sich. Er trug keine Schuhe und auch sonst nicht viel. Nur ein seltsames Gewandt, aus zarter, blassgrüner Seide. Trockenes Geäst knackte unter seinen Schritten, ansonsten war es sehr still. Cas bahnte sich weiter durch den dichten Laubwald. Etwas stimmte nicht. Etwas fehlte. Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Rinde einer Birke. Dann kniete er sich nieder und lauschte auf Geräusche. Stille. Es fand sich kein einziger Käfer unter dem Laub, in Büschen oder in den zarten Rillen der Baumrinden. Auch sonst fehlte jegliche Spur von Tieren, nicht mal ein Vogel zwitscherte. Cas kletterte an den Ästen einer Eiche empor, bis er durch das dichte Blätterdach den Himmel erspähen konnte. Nichts als azurblau erstreckte sich über ihn in die Weiten. Nichtmal eine Wolke war zu sehen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und überblickte die Umgebung. Es schien auch nur Wald zu geben. Die unterschiedlichsten Grüntöne ergaben das Bild eines ewigen Mischwaldes. Doch das Grün wurde je unterbrochen, von einem einzigen roten Fleck in nördlicher Himmelsrichtung. Cas stieg vom Baum und machte sich auf den Weg, diesen ungewöhnlichen Fleck zu erkunden.

Je weiter er in den Norden vordrang, desto kahler und kränker wurden die Bäume. Weißer Schimmel hatte sich um die dicken und dürren Baumstämme gelegt und es roch modrig. 

Der Boden unter ihm glich schon bald einer moorartigen Landschaft. Nicht mal ein Gänseblümchen wagte es hier, seinen Kopf aus der Erde zu stecken. Selbst die Strahlen der Sonne schienen nur gedämpft durch den Wald zu kommen und alles lag in einem düsteren Licht. Nebel zog auf. Knochige Äste versperrten ihm den Weg und er musste sie mit der Hand beiseiteschieben. Kalter Schweiß kroch Cas den Rücken hinab. Er fühlte sich beobachtet, als hätten die dürren, toten Gebilde von Bäumen Augen. Nach einer Weile entdeckte er tiefrote Wurzeln unter dem modrigen Schlamm aufleuchten. Sie schlängelten sich durch den Wald wie durch einen kranken, zerfressenen Körper. Die Bäume, die es hier noch gab, glichen kohlschwarzen Gerippen, die einsam verteilt in einem Moor mit blutroten Adern standen.

Wenn Cas die Wurzeln mit dem nackten Fuß berührte, fühlte er sie pulsieren. Doch der Waldboden gab keine Wärme ab, sonder nur eisige Kälte. Der Nebel trieb vor ihm her wie ein träger Fluss und er glaubte den Wind einatmen zu hören. Weiter, drängte er sich selbst. Immer weiter. Eine Stimme rief nach ihm. Eine unhörbare Stimme in seinem Herzen. Einsamkeit.

Er erreichte ein freies Feld, um das der Nebel halt zu machen schien. Herzen, statt Bäume wuchsen dort aus der dunkelroten Erde hervor. Es roch nach verdorbenen Fleisch und faulen Eiern. Ein Flüstern, mehr ein Krächzen wie aus der Kehle einer Krähe, ertönte an seinem Ohr und erzählte ihm eine Geschichte. Eine Geschichte, die mit dem Tod anfing und auch damit endete. Denn, so sagte ihm die Stimme: »Du befindest dich im Tal der Einsamkeit.«

Das Flüstern verschwand und an seine Stelle trat das Geräusch leiser Schritte, die ein schmatzendes Geräusch auf den feuchten Boden hinterließen. Ein Mädchen mit karamellfarbener Haut und schwarzen Haaren erschien in einem weißen Kleid. 

»Lara ... «, flüsterte er.

»Mein Baby«, schluchzte sie.

Cas machte einen Schritt auf sie zu. Seine nackten Füße berührten den feuchten Boden. Blut, sie berührten kaltes, bereits gerinnendes Blut. Er erschauderte und sah zu dem Mädchen.

»Mein Baby«, wimmerte sie und hielt sich den Bauch. Ein roter Fleck breitete sich dort auf ihrem weißen Kleid aus. »Mein Baby!«, kreischte sie und sank auf die Knie. Der Klang ihrer schrillen Stimme drang bis in Cas Knochen und vibrierte dort wieder und wieder. Mein Baby, mein Baby ... 

»Lara, was ist mit dir?« Er streckte die Hand nach ihr aus, doch das Mädchen sah ihn direkt an und da erkannte es Cas. Vor ihm kniete nicht Lara, sondern ... 

»Sie ist tot ... wird niemals geboren werden«, flüsterte Ana. »Lara wird es nie geben, sie wird niemals atmen.« Sie riss die Augen auf. »Du bist allein!« 

Allein, allein ... heulte der Wind durch die toten, zerfallenden Herzen. Der Wald schrie hinter ihm. Es hörte sich an wie tausend ersterbende Seelen. »Nein! Nein!«, rief Cas, kniete sich vor Ana nieder und presste seine Hände auf ihren Unterleib. Doch sie erstarrte, verwandelte sich in dunkelrotes Glas und zersprang in tausende Teile. 

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