Lara verabschiedete sich auf dem Gehweg vor dem Wunderkästchen von Kyle, der noch zu einer Hospitation in den Kindergarten musste. Sie betrat den vorderen Teil des Ladens. Das Sonnenlicht, welches durch die Tür strömte, traf auf große Schränke aus Eichenholz an den Wänden, gefüllt mit Büchern und Holzkästchen mit allen möglichen Steinen und Kräutern. Die Kürbisse, die auf den breiten Fenstersimsen rechts und links des Einganges standen, warfen gruselig verzerrte Schatten auf den Holzboden und vermischten sich mit den Umrissen der roten, schwarzen und weißen Federn einiger Traumfänger, die in einer unsichtbaren Strömung von der Deckel baumelten und den Blick zur Kasse versperrten. Es roch nach altem Papier und Vanille, von den Duftkerzen.
Lara lief an ihnen vorbei und lehnte sich gegen den Tresen, auf dem die Kasse, Schachteln mit Räucherstäbchen und Hörproben standen. Sie beobachte ihre Mutter dabei, wie sie orangerote Lichterketten über die Regale hängte.
»Lara, Liebling«, sagte sie und pustete sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem losen Zopf gelöst hatte. »Geh ruhig schon mal in die Küche, Susi hat Kürbissuppe gemacht.« Laras Magen knurrte allein bei dem Gedanken an Essen. Irgendwas festeres als Kürbissuppe wäre ihr lieber gewesen, aber Hauptsache sie bekam etwas zwischen die Zähne.
Und Susi kochte wirklich gut.
»Soll ich dir danach beim Dekorieren helfen?«, fragte sie. Ihr Mutter richtete sich auf, stemmte die Hände in die Hüfte und musterte sie aus ihren dunklen Knopfaugen.
»Musst du nicht Hausaufgaben machen? Deine Schicht fängt erst um 17:30 an.« Lara seufzte gedehnt.
»Kann schon sein.« Sie fuhr mit dem Stiefel über den Boden.
»Ach Lara«, jammerte ihre Mutter, »du musst dir ein bisschen mehr Mühe geben. Nicht mehr lange, dann hast du dein Abi und die Welt steht dir offen.«
»Ja, ich weiß.« Lara gähnte. Sie hatte in der letzten Nacht nur vier Stunden geschlafen. Einschlafen fiel ihr nach dem Wochenende immer schwer. Sie warf sich die Schultasche über die Schulter und lief die breite Treppe, hinter den Regalen, nach unten ins Café.Es war so gut wie leer, nur drei Stammgäste hatten es sich in den alten Korbsesseln bequem gemacht. In der hinteren Ecke, neben dem Fenster, auf dem nun Herbstblätter klebten, saß Hime. Eine kleine, mittelalte Japanerin, die stets einen Kimono - jeden Tag eine andere Farbe - trug und mit ihrer aufrechten Haltung tatsächlich wirkte wie eine Prinzessin, obwohl Hime nicht ihr richtiger Name war. Sie hieß genau genommen Akihime.
Gegenüber ihres Tisches saß Anke Jakobs und Anke, naja, sie war ein Fall für sich. Wenn man ihr zu nahekam, schaute sie einem mit ihren blassblauen Augen an und erzählte einem ihre Lebensgeschichte und wenn es ganz schlimm kam, legte sie einem Karten. Und dabei kam nie, wirklich nie etwas Gutes bei raus. Eben eine echte Dramaqueen. Vielleicht sollte sie Liebesdramen oder so etwas schreiben.
Johannes Gruber, ein Frührenter mit erstaunlich vollem Haar, saß immer ganz vorne, gegenüber der Theke, auf der vegane Muffins und Kuchen standen. Johannes sprach nie viel, er schaute Susi gerne dabei zu, wie sie die Gäste bediente. Insgeheim mochte er sie wahrscheinlich. Susi war fünfzig und trug ihre Haare rot gefärbte, bis zur Rückenmitte in Rastalocken. Lara mochte die farbenfrohe, wenig konservative Frau. Sie gehörte quasi zur Familie.
Lara ging mit gesenkten Kopf an »Dramaqueen« vorbei und grüßte sie nur mit einem kurzen: »Hallo Frau Jakobs.« Schnell verschwand sie hinter der Theke, durch die Holztür in die Küche. Überall duftete es aromatisch, nach Kürbis und Gewürzen. Susi trug eine Schürze und bearbeitete gerade Keksteig mit Ausstechern in Form von Kürbissen, Geistern und Ahornblättern.
»Hey, Süße!« Sie ließ vom Teig ab, wischte ihre Hände an der Schürze ab und umarmte sie kurz. »Na, wie war die Schule?« Lara zog die Schultern hoch.
»Langweilig.« Susi grinste und zeigte dabei ihre etwas windschiefen Zähne.
»Ich hab die Schule auch nie gemocht.« Sie lachte laut und holte einen tiefen Teller aus den oberen Regalen. »In der Speisekammer haben wir noch Brötchen vom Frühstück. Wie ich dich kenne, verhungerst du gerade!«
»Und wie! Kyle kommt nachher noch vorbei, muss noch zur Hospitation in einen Kindergarten.«
»Ach ja, unser Kyle wird erwachsen«, sagte Susi und rieb sich über die grünbraunen Augen.Lara schmunzelte und ging in die Speisekammer, um sich ein Laugenbrötchen zu holen. Sie kannte Kyle seit der Grundschule. Er war in der Dritten, als sie eingeschult wurde. Später ging sie dann auf die Gesamtschule und er auf eine Hauptschule. Aber ihre Freundschaft hatte darunter nicht im Geringsten gelitten. Mit dem Laugenbrötchen in der Hand, setzte sie sich auf die Küchenablage und löffelte Kürbissuppe. Ihre Mutter hätte was dagegen, wenn sie sich auf die Theke setzte, wegen der Hygiene und so, aber Susi störte das nicht. Sie putzte die Ablagen sowie so regelmäßig.
Nach dem Essen plauderte sie ein wenig mit Hime über die Tradition der Kimonos und den Buddhismus. Sie empfahl ihr ein Buch mit dem Titel: »Buddhismus und die Moderne«, das neu reingekommen war und versuchte dann tatsächlich ihre Hausaufgaben zu machen.
Englisch und deutsch gingen ihr ganz leicht von der Hand und sogar mit Mathe kam sie einigermaßen klar. Eigentlich mochte sie Mathe, aber bei Herr Miller wurde es zur Folter. Innerhalb weniger Monate, war sie bei ihm von einer guten zwei, auf eine vier plus abgesackt. Um viertel nach fünf packte sie ihr Zeug weg, ging durch die Café-Tür, der Laden hatte zwei Eingänge, hinaus, um eine zu rauchen. Dabei stierte sie feindselig auf das Cafés Baumkrone‹ schräg gegenüber.
Es hatte vor etwa zwei Monaten eröffnet und bot auch vegane Kost an. Dadurch hatten sie deutlich an Laufkundschaft verloren. Lara musste sich eingestehen, dass es nicht gut um das Wunderkästchen stand. Sie seufzte, zog noch einmal an ihrer Zigarette, drückte sie an einer Mülltonne aus und trat ihre Schicht an.Susi verabschiedete sich kurz darauf zum Yoga mit ihren Freundinnen und Lara war allein im hinteren Teil des Ladens. Kaum Kundschaft, wie jeden Abend. Sie wischte die Tische ab, räumte die Küche auf und fegte den Boden. Gegen halbsieben hörte sie den hellen Klang des Windspiels, das Besucher ankündigte.
»Guten Abend«, hörte sie ihre Mutter freundlich sagen. Es war so still und leer im Laden, dass Lara jedes Wort verstehen könnte.
»Hallo«, sagte eine zögerliche, etwas heisere Stimme. Sie musste zu einem jungen Mann gehören, vielleicht sogar in ihrem Alter. »Ich suche ... keine Ahnung, etwas zum Beten, was Wünsche verstärkt, oder so.« Er räusperte sich. Lara musste ein wenig grinsen. Es war offensichtlich, dass er das erste Mal einen esoterischen Laden betrat.
»Nun«, sagte ihre Mutter. »Da gäbe es den Mondstein, der klares Denken fördert und bei der Erfüllung von Wünschen helfen soll. Oder Sorgenpup... Oh, was ist denn mit deinen Händen passiert?« Ihre Mutter klang besorgt. »Lara!«, rief sie, »kannst du den Verbandskasten aus der Küche holen?«
»Was ist denn los?«, rief sie, doch ihre Mutter sprach wieder mit dem Fremden: »Mein Gott, du siehst ja auch ganz verhungert aus. Komm mit, setzt dich erstmal ... «Lara eilte in die Küche, um den Verbandskasten zu holen. Ihre Mum handelte wie Mutter Theresa Nummer zwei. An Fürsorge nicht zu übertreffen, aber gerade das machte sie aus und Lara war sehr stolz auf ihre Mutter.
Als sie aus der Küche kam, platzierte ihre Mutter den Unbekannten gerade an einem Platz vor der Theke. Ein dunkelhaariger Junge, vielleicht achtzehn oder neunzehn. So genau konnte man das ja nie wissen. Jedenfalls blieb sie wie angewurzelt stehen und schaute in seine ozeanblauen Augen.
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Scherbenbild
Fiction généraleLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...