-10- Von schlagenden Herzen und wütenden Tränen

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Der neue Morgen kam. Unaufhaltsam stieg die Sonne höher, bis sich blutrotes Licht über die Wolken legte und sie in rosaner Farbe in die Welt hinausschickte. Sie waren alle nur kurz Zuhause gewesen und hatten höchstens drei Stunden Schlaf hinter sich. Maike bekam heute den Anruf, auf den Lara irgendwie schon die ganze Zeit gewartet hatte. Thomas hatte einen Organspendeausweis. Und wie sich herausstellte, brauchte jemand ganz dringend sein Herz. Ein Herz, das noch schlug - gesund war. Im Grunde hatten sie alle nicht viel mitzureden. Ihr Vater hatte das bereits vor langer Zeit entschieden. Jemand brauchte sein Herz, also bekam er es. Dabei war es sein Herz. Es gehörte ihm, hatte all die Jahre in seiner Brust geschlagen.
Bald nicht mehr ...

Sie fuhren ins Krankenhaus, noch bevor die Sonne über die Häuser kletterte.
Zeit für Abschied.
Frau Klein machte zur Sicherheit noch ein paar Tests und stellte daraufhin den Hirntod fest.
Mittwoch, 19. Oktober 2015 und der schlimmste Tag in Laras bisherigem Leben.

Sie saßen alle um Thomas Bett herum und heulten. Gott, sie heulten wie noch nie zuvor. Lara küsste ihn auf die Stirn, streichelte über das dichte Haar. Es fühlte sich weich an. Lebendig.
Loslassen.
Wie konnte man von jemanden loslassen, der aussah als würde er schlafen, dessen Herz noch schlug? Das war grausam. Wie konnte man realisieren, dass jemand ging, wenn sein Herz kurz darauf in einer anderen Person weiterschlagen würde? Lara wollte nicht wissen, wer diese Person sein würde. Sie könnte sie nicht ansehen. Ihr Vater schenkte ein Leben, so musste sie es sehen. Jeder Atemzug ist ein Wunder, das hatte Cas gesagt. Ihr Vater würde ein Wunder vollbringen. Ja, er würde sein Herz geben, damit jemand anders weiterleben konnte. Sie rieb sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirtpullis über die Augen und flüsterte: »Du bist tapfer, Dad. Wir werden auch tapfer sein.« Ihre Mutter drückte sie von hinten an sich.
»Wir werden alle stark sein.« Sophie kletterte auf das Bett, legte sich quer über die Brust ihres Vaters und wimmerte so laut - das ganze Krankenhaus musste es hören.

Dann wurde es Zeit, ein letztes Lebewohl, ein letztes Mal Händedrücken und Küsse geben, noch einmal dem Herzschlag lauschen, gehauchte »ich hab dich lieb« oder »ich liebe dich«, dann wurde er weggebracht. In den OP. Seine letzte Fahrt, sein letztes Opfer, seine letzten Atemzüge, sie würden sie nicht miterleben. Aber sie hatten sich verabschiedet. Und irgendwo wurde eine neue Hoffnung geboren. Lara hoffte auch. Sie hoffte, dass es ihrem Vater gut ging, wo auch immer er hinkam. Und wenn er ein neues Leben, in einem anderen Körper leben würde, dann hoffte sie, es würde ein erfülltes sein.
Er ging. Sie blieben. Der Lauf des Lebens. Und doch wollte es Lara nicht wahrhaben. Solche Fragen wie: Warum er?, Warum jetzt?, blieben unausweichlich.

Kyle wartete unten vor der Cafeteria auf sie. Sophie und ihre Mutter gingen. Sie würden später wiederkommen. Sich um den angefallenen Papierkram kümmern. Lara blieb. Sie konnte nicht gehen. Am Ende wollte sie doch wissen, wer das Herz ihres Vaters bekam, oder zumindest wissen, ob die OP erfolgreich war.

Kyle holte ihr eine heiße Schokolade. Er meinte, das wäre jetzt genau das richtige. Er wickelte sie in eine Wolldecke aus seinem Wagen, von den Picknicken am See, platzierte sie auf eine Bank in der Cafeteria und drückte sie an sich. Lara weinte nicht. Sie konnte nicht. Vielleicht hatte sie schon alles Tränenwasser beim Abschied verbraucht. Irgendwie fühlte sie sich nur noch leer. Kyle strich ihr durch die Haare und hielt sie fest. Dabei spürte sie fast überhaupt nichts. Keinen Schmerz, keine Freude, einfach nur ein alles aufsaugendes Nichts.

Und dann kam Cas. Er betrat die Cafeteria mit Hoffnung in den Augen. Hoffnung.
Er wirkte nervös, fuhr sich durch die Haare und brauchte gefühlte fünf Minuten, um Zucker und Milch in seinen Kaffee zu schütten. Dann drehte er sich direkt zu ihr, sah sie und das Leuchten in seinen Augen erlosch. Und da ahnte es Lara, wusste es beinahe, als hätte die Leere einen sechsten Sinn in ihr erweckt. Sie konnte es ihm ansehen, auch wenn es verrückt klang. Er rief es förmlich aus.

Ihr wurde schlecht, so unglaublich schlecht, sie presste die Hand auf den Mund, rannte an Cas vorbei aus der Cafeteria und übergab sich in der nächst besten Damentoilette. Sie übergab sich mehrmals, kotzte alles raus. Die Leere, die ganze große Leere und dann kotzte sie Schmerz und Wut und alles drehte sich, während ihr die Tränen aus den Augen und der Rotz aus der Nase strömte.
»Scheiße!«, rief sie, als sie endlich fertig war. Sie donnerte ihre Fäuste gegen die Toilettentür, stürzte zum Waschbecken, spritze sich so oft eiskaltes Wasser ins Gesicht, bis es ganz betäubt war. Dann stürmte sie raus. Kyle stand vor der Tür und hielt sie am Arm fest.
»Hey, warte. Bist du okay? Du hast Marathon gekotzt da drin, ich war kurz davor rein zu ko...«
»Wo ist er?!«, rief Lara.
»Wer?« Kyle sah sie verständnislos an.
»Cas, scheiße, wo ist er?!«
»Keine Ahnung. Was ist denn mit dem? Lara, bist du in Ordnung?« Er wollte sie zu sich drehen, doch in dem Moment sah sie Cas. Er lief an ihnen vorbei, musste noch eine Weile in der Cafeteria gestanden haben.

Lara löste sich von Kyle, lief auf ihn zu und drückte ihn an den Schultern gegen die nächstbeste Wand. Der Kaffeebecher fiel ihm aus den Händen und braune Flüssigkeit verteilte sich auf dem Boden.
»Spinnst du?« Cas riss sich los, doch Lara packte ihm am Handgelenk.
»Du hast es gewusst, oder?« Tränen strömten haltlos über ihr Gesicht.
»Was gewusst?«
»Deine Mutter ... sie ist Herzkrank, oder? Ich hab doch recht? Deswegen bist du hierhergezogen, weil hier auch die Herzklinik ist. Deswegen hast du gesagt, dass du hoffen musst.« Scheiße, was machte sie da? Was warf sie ihm da nur an den Kopf? Verdammt. Sie ließ ihn los, starrte in seine Augen. Für einen Moment überkam sie die unglaubliche Angst, sie könnte sich verrannt haben und ihn in blinder Hysterie anfahren. Doch er senkte den Blick und schwieg. Dieses Arschloch konnte sie nicht mal ansehen. »Ist es wahr?«
»Ja«, sagte er und etwas in Lara riss. Sie ließ ihn los, drehte sie sich um, schnappte sich Kyles Hand und verließ mit ihm, laut weinend, das Krankenhaus.


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