Kapitel 1 - Ein Unglück kommt selten allein...

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Bahe rannte geduckt in einer dunklen Sackgasse durch den strömenden Regen. Am Ende der Gasse stapelte er ein paar alte Plastikkisten auf die halb verrosteten Müllcontainer und ermöglichte es sich so, an das vier Meter hohe Ende der Betonmauer zu kommen. Er zog sich mit einem Ruck nach oben und stieß sich gleichzeitig mit den Füßen an der Mauer ab, ehe er sich auf der anderen Seite, vorsichtig auf das Dach eines Bungalows hinunter gleiten ließ. Mit leisen Schritten lief Bahe weiter über die Dächer verschiedener Bungalows und provisorischer Hütten, die gerade in den äußeren Bereichen der Slums zum Alltag geworden waren.

Nach einiger Zeit ging es über den Boden weiter, wo er darauf achtete, den wenigen Menschen auf den vor Matsch triefenden Wegen nie zu nahe zu kommen. Zu dieser Uhrzeit konnte sonst was passieren und es würde niemanden interessieren. Nicht, dass er etwas von Wert bei sich getragen hätte.

Wobei der Begriff Wert relativ war, denn vielleicht gefielen dem ein oder anderen Obdachlosen ja seine Schuhe. Bei dem Gedanken beschleunigte Bahe seine Schritte nochmal und legte die letzten zwei Kilometer, regelrecht um sein Leben rennend, zurück.

Inzwischen waren die provisorischen Hütten und Bungalows verschwunden und hatten Platz für alte, runtergekommene Betonbauten gemacht, die in zahllosen Varianten ineinander verschachtelt dastanden und Zeugnis über vergangene Bausünden ablegten. Bahe lief immer noch durch Seitengassen und hielt sich von den beleuchteten Wegen fern. Er wagte es nicht mehr, sich seinem zu Hause über die von Leuchtreklamen und blinkenden Verkaufsschildern strotzenden Straßen zu nähern.

Mit Anlauf sprang er an eine Mauer und kletterte die letzten Meter auf das Dach eines eingestürzten Gebäudes, das sich direkt gegenüber vom Grundstück seiner momentanen Bleibe befand.

So leise wie möglich hob er einen langen Balken an und wuchtete ein Ende über die dunkle Gasse hinweg auf die Grundstücksmauer der gegenüber liegenden Seite. Der Moment des dumpfen Aufpralls hallte unnatürlich laut durch die Nacht und ließ Bahe in Gedanken an mögliche Folgen erzittern. So schnell er es wagte, huschte Bahe hinüber, kletterte auf einen alten, metallenen Schuppen hinab und zog den Balken zu sich herüber.

Nachdem er den Balken am oberen Ende des Schuppens festgeklemmt hatte, schlich er zum Rand des Schuppens und ließ sich leise zum Boden herab fallen.

Wie der Blitz huschte Bahe anschließend zur Hintertür der Erdgeschosswohnung, öffnete sie langsam, um bloß kein Quietschen zu erzeugen und schloss sie auf die gleiche quälend, langsame Art wieder.

Ein kurzes Rappeln war zu vernehmen als die Tür ins Schloss fiel und Bahe ließ sich vor Schreck instinktiv in die Hocke fallen. Einen Augenblick später hörte er schon hektische Schritte im Matsch und im nächsten Moment schlug jemand hart und laut brüllend an die Tür: „Hey! Ich weiß, dass du da bist! Du weißt, wer wir sind! Mach die Tür auf, sonst wird es nur unangenehmer für dich! Hey! Mach auf!"

Bahe hielt die Luft an und duckte sich noch näher an die Wand, um vom Fenster aus nicht ausgemacht werden zu können. Die Tür musste noch einen Augenblick länger den Schlägen des Mannes standhalten, ehe kurzzeitig Ruhe einkehrte.

„Bist du sicher, dass du was gehört hast?", fragte eine andere Männerstimme mit starkem Akzent.

„Was soll's denn sonst gewesen sein?", blaffte der Mann an der Tür.

„Vielleicht war's nur ne Ratte."

„Ach was, ne Ratte?!", meinte der Mann an der Tür herablassend.

„Man, ich habe doch auch Augen im Kopf. Schau dich doch mal um, wo zum Henker soll der Junge bitte schön hergekommen sein? Wir beobachten das Haus seit Tagen. Es gibt nur die Vordertür und den Weg, den wir gerade genommen haben, um in diesen Hinterhof zu kommen. Beides hatten wir immer im Blick. Hier hinten hat die Oma, der diese Ruine gehört, doch tatsächlich diese drei bis vier Meter hohe Mauer um das Grundstück errichten lassen. Der Junge kommt vielleicht über den alten Schuppen von hier hinüber, aber nicht wieder zurück. Draußen ist überall nur die kahle Wand, das Stück sind wir extra abgelaufen!"

Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt