Mit einem Lächeln trat sie von der Materialisierungsplattform und atmete tief ein. Hier in Raoie konnte sie all ihre Sorgen vergessen.
Vor ihr erstreckte sich der übliche Marktplatz Waldenstadts. Wie immer war er voller Spieler, die auf Teammitglieder warteten oder sich über Spielanfänger belustigen wollten. Doch bevor Kaiwen sich in Bewegung setzte klappte auch schon ein Benachrichtigungsfenster auf.
„Angel Eye, endlich bist du mal wieder online!"
„Ich habe doch nur zwei Nächte ausgesetzt", meinte sie Augen verdrehend, als sie Moorgs Stimme vernahm. Der Typ wurde langsam anhänglich.
„Haha", lachte Moorg verhalten und setzte eine Tonlage ein, von der er vermutlich meinte, dass sie besonders cool wirkte: „Die zwei Tage in denen wir nicht gesprochen haben, kamen mir halt wie eine Ewigkeit vor."
Echt jetzt?!
Würde sie dem Typen jetzt gegenüber stehen, würde er ihr wahrscheinlich auch noch zu zwinkern. Angewidert schüttelte sie sich und versuchte ihn abzuwürgen.
„Also, wenn nichts ist, dann kappe ich jetzt die Verbindung", sagte sie.
„Hey, hey, Moment mal!", antwortete Moorg schnell.
„Was ist denn?"
„Eigentlich wollte ich fragen, ob du dich mit mir und meinem Trupp zu den südlichen Jagdgründen aufmachen willst...?"
„Tut mir leid, ich kann heute nicht."
„Was hast du denn vor?"
Ließ dieser Idiot denn nie locker? Innerlich seufzend antwortete sie: „Ich muss heute zwei Fähigkeiten für meine Berufsklasse trainieren und abgesehen davon, weißt du doch genauso gut wie ich, dass ich in einem Kampf vollkommen unbrauchbar bin."
„Ach, quatsch", meinte Moorg aufbauend. „Jede Klasse hat ihren Nutzen."
Ja, dem stimmte Kaiwen zu. Nur ihre eben nicht, im üblichen Farmen bei der Monsterjagd.
„Trotzdem, heute kann ich nicht."
„Schade...", antwortete Moorg hörbar geknickt. „Aber kein Problem, du kannst ja beim nächsten Mal mitkommen."
„Sicher", antwortete Kaiwen knapp, nur um ihn möglichst schnell loszuwerden.
„Super! Dann sehen wir uns bald", erklärte Moorg schon wieder deutlich fröhlicher.
„Ja, bis bald!"
„Bis bald", verabschiedete er sich noch und kappte die Verbindung.
Kaiwen atmete auf. Den Himmeln sei Dank, dieser Vollidiot hatte endlich den Chat beendet. Sie suchte in ihrem Charakterprofil schnell Moorgs Namen und wählte Verbindung blockieren aus.
Kaiwen wollte ihre Aktion schon bestätigen, zögerte dann jedoch. So sehr Moorg auch nervte, sie brauchte ihn... oder nicht?
Seufzend fuhr sie sich durch die Haare. Nach Wochen hatte sie endlich mal wieder eine Gruppe gefunden, die sie auf ihre Jagd- und Trainingsausflüge mitnahm. Aber war es die Gruppenzugehörigkeit wirklich wert, sich ständig den Annäherungsversuchen dieses Idioten aussetzen zu müssen?
Ach scheiß drauf, dachte sie und gab den Befehl: „Ja."
Die magische Verbindung zu Moorg ist nun dauerhaft blockiert. Sprich den Befehl „Verbindung zu Moorg wieder freigeben", um die Chatfunktion mit dieser Person wieder zu ermöglichen.
„Wenigstens wird er jetzt nicht mehr nerven können", sprach sie mit sich selbst und setzte sich am Rande des Marktplatzes an einen freien Tisch von einem der vielen verfügbaren Restaurants.
Es war ein ungewöhnlich schöner Tag in dieser virtuellen Welt, dachte Kaiwen und blickte zwischendurch gen Himmel. Die Sonne schien und nur sehr vereinzelt ließen sich kleine Wolken ausmachen. Das Wetter Raoies stand so im Gegensatz zur Realität, denn dort bedeckte in den letzten Tagen nur eine dichte Wolkendecke den Himmel.
Kaiwen beschloss später noch ein Bisschen durch die belebten Straßen Waldenstadts zu schlendern.
„Was kann ich Ihnen bringen?"
Kaiwen wandte den Blick zur Magd und sagte: „Ein Fruchtwasser mit Apfel bitte."
„Kommt sofort", erklärte die Frau mit einem Lächeln und verschwand im Restaurant.
Fruchtwasser war im Grunde nichts anderes als stilles Wasser, welches mit klein geschnittenem Obst vermischt wurde. Wirklichen Saft gab es in dieser mittelalterlichen Fantasy-Welt nicht. Oder zumindest bis jetzt noch nicht, überlegte sie.
Es war halt das Leid der Startstädte, dass es außer Wasser, Bier und Wein nicht wirklich etwas anderes zu trinken gab. Das Fruchtwasser war da schon etwas Besonderes, was natürlich dafür sorgte, dass sich die Tavernen und Restaurants den Aufwand entsprechend vergüten ließen. Fünf Kupfermünzen pro Becher war etwas, das nicht jeder bezahlen konnte, geschweige denn wollte.
Die Spielanfänger hüteten ihre kleines Vermögen und dachten gar nicht erst daran, es für Luxusgüter auszugeben. Waffen und die bescheidenste Nahrung, die es führ Geld zu kaufen gab, waren meistens die Güter der Wahl. Was im Klartext nichts anderes bedeutete als Wasser und Brot, sowie irgendwelche gebrauchten Zahnstocher von Artefakten, an denen selbst der Rang Gewöhnlich noch verfehlt war.
Kaiwen schüttelte den Kopf, als sie an den Vorfall vor zwei Tagen zurück dachte, an dem ein Spielanfänger Freudensprünge vollführt hatte, nachdem er sich sein erstes Schwert gekauft hatte.
Ihre Identifikationsfähigkeit hatte ihr gleich gezeigt, dass es selbst für einen Gegenstand des Gewöhnlich-Ranges absolut unterirdische Werte aufwies. Wahrscheinlich war das Schwert inzwischen zerbrochen.
Kaiwen wurde aus ihren Gedanken aufgeschreckt, als die Magd ihr das Fruchtwasser im Metallbecher servierte. Sie bedankte sich und nahm einen Schluck.
Der Metallbecher störte sie ein wenig. Ein Glas wäre ihrem Getränk viel besser bekommen, aber soweit sie wusste, fand man solche Luxusgegenstände nur in Gegenwart des Adelsstandes oder äußerst betuchter Kaufleute.
Das Wasser schmeckte erfrischend und leicht nach Apfel, gerade richtig an einem so schönen Tag wie heute.
Worin lag denn der Sinn in Raoie, wenn man nicht auch die schönen Seiten dieser virtuellen Welt genoss?
Die meisten Spieler strebten immer nur nach besseren Stats, Fähigkeiten und höheren Leveln, doch sie war da anders. Vor allem da ihr Level inzwischen hoch genug war, um sich gewisse Annehmlichkeiten zu gönnen.
Sie hatte natürlich auch schon Bier und Wein ausprobiert, doch wer wollte sich schon ständig zu Beginn der eigenen Spielzeit besaufen?
Denn was viele Spieler zunächst nicht erwarteten, war die Tatsache, dass man durchaus besoffen werden konnte. Kaiwen war es selbst auch passiert. Irgendwann war sie im Rausch durch die Straßen Waldenstadts gewandert und kurz vor Ende ihrer Spielzeit am anderen Ende der Stadt wieder zur Besinnung gekommen. Sie hatte sich doch tatsächlich übergeben müssen, ehe sie sich ausloggen konnte und zu ihrer Bestürzung hatte sie obendrein festgestellt, dass sie bis auf das letzte Artefakt ausgeraubt worden war. Selbst ihre Stiefel hatte irgendjemand an sich genommen. Ganze fünf Tage war sie in Raoie Barfuß durch die Gegend gelaufen, ehe sie sich genug Geld verdient hatte, um ihre wunden Füße wieder in weichem Schuhwerk betten zu können.
Wie sie den Realtitätsgrad Raoies in diesen Tagen gehasst hatte... Wahrscheinlich hätte sie damals das Spiel hin geschmissen, wenn sie nicht durch ihren Job darauf angewiesen wäre, auch hier vor Ort brauchbare Informationen finden zu können. Ihr Ziel war nicht als Spielerin erfolgreich zu sein, sondern vielmehr immer über die aktuellen Gerüchte und bemerkenswerten Situationen im Bilde zu sein. Sollte unerwartet ein Kampf zwischen zwei führenden Spielern stattfinden, würde man es hier zuerst erfahren. Wenn sie eins in ihrer kurzen Laufbahn gelernt hatte, dann, dass man für bemerkenswerte Schlagzeilen schnell sein musste.
Nicht zuletzt deswegen,hatte sie sich für ihre eher ungewöhnliche Klasse entschieden.
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Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2
FantezieIn einer nicht all zu fernen Zukunft schuftet sich Bahe jeden Tag ab, um seine Familie unterstützen zu können, die unter enormen Schulden leidet. Doch Monate nach dem Schulabbruch muss Bahe sich eingestehen, dass er an seine Grenzen gelangt ist. In...