Tarat führte ihn anschließend zu einem neuen Bereich auf dem Trainingsgelände. Überall standen menschliche Attrappen herum, die seltsam viel Ähnlichkeit mit Vogelscheuchen aufwiesen. Einzig ihre Aufmachung unterschied sie von solchen. Während die ein oder anderen nur aus Strohballen bestanden, waren ausgewählte Exemplare auch mit Lederharnischen, Kettenhemden, Rüstungen und dazugehörigen Helmen ausgestattet.
Bisher waren noch keine weiteren Spieler oder NPCs zu sehen, wahrscheinlich war es einfach noch zu früh.
„Willkommen auf dem Trainingsplatz der Schwertkämpfer!", rief Tarat begeistert und wies mit einer Handgeste auf das umliegende Gelände. „Hier wirst du die Grundsätze des Schwertkampfes lernen. Du wirst die geballte Kraft erfahren, die in all deinen Bewegungen steckt, als auch die feinen Kniffe, welche dich lehren werden richtig mit ihr umzugehen."
Bahe fasste sein eigenes Schwert dabei noch einmal fester und nickte begeistert. Er konnte es gar nicht mehr abwarten, sich auszuprobieren.
„Die letzte Dumpfbacke, die ich unterrichten durfte, hat doch tatsächlich gedacht, dass man beim Schwertkampf den Gegner nur vor sich her treibt und dabei mit Schlägen eindeckt. Was natürlich vollkommener Schwachsinn ist", bemerkte Tarat abfällig und schaute Bahe ernst an. „Wenn ich dich trainiere, dann ernsthaft. Ich habe hohe Ansprüche, also gibt es bei mir keine Spielereien. Vor allem nicht, wenn ich die ganze Sache hier um sonst mache, verstanden?"
„Klar", antwortete Bahe.
„Gut", nickte Tarat und sagte: „Fangen wir an. Erste Lektion, der Schwertkampf besteht zu gleichen Teilen aus Ausdauer, Koordination, Konzentration, Kraft und Schnelligkeit. Will dir jemand etwas anderes weismachen, hat diese Person keine Ahnung. Im Klartext heißt das, dass bei einem Schlag von oben, dem sogenannten Oberhau, nicht nur die Arme, die das Schwert führen, wichtig sind, sondern auch die Fuß- und Beinarbeit. Kannst du mir noch folgen?"
Diesmal nickte Bahe.
„Ja, klar...", schnaubte Tarat. „Der Theorie kannst du folgen, aber kannst du es auch praktisch umsetzen? Wohl eher nicht."
Danach ging er auf einer der Strohpuppen zu und fasste ihr an die Schulter, ehe er zu erklären begann: „Diese Attrappe hier, wird für die nächste Zeit dein Trainingspartner sein, Anael. An ihr wirst du dich am Oberhau versuchen und gleichzeitig deine Beinarbeit trainieren. Die Beinarbeit ist zunächst das Wichtigste an der ganzen Sache. Auf den Schlag kommt es nicht an, verstanden?"
„Wieso ist die Beinarbeit denn so wichtig?"
„Gute Frage", lobte Tarat und trat ein paar Schritte von der Strohpuppe zurück. „Schau mal her."
Anschließend vollführte er mit seinem eigenen Schwert einen Schlag von oben hinab auf die Strohattrappe. Das Schwert sauste mit voller Wucht durch die Attrappe hindurch, teilte sie in zwei und krachte in den Erdboden.
„Wow...", brachte Bahe hervor, der die Wucht hinter dem Schlag förmlich gespürt hatte.
„Ähm... Habe meine Kräfte unterschätzt....", kratzte Tarat sich vor Verlegenheit am Kopf. „Wir nehmen einfach eine neue Attrappe..."
Erst jetzt verstand Bahe, dass Tarat es wohl gar nicht beabsichtigt hatte, die Strohpuppe zu ruinieren und musste sich sein Grinsen verkneifen.
„Hier, nehmen wir die", wies Tarat diesmal auf eine Attrappe in voller Rüstung und nahm wieder seine Grundposition ein. Danach führte er seinen Schlag zum zweiten Mal aus. Erneut fraß sich das Schwert durch die Menschenattrappe und schnitt dabei durch die Rüstung als wäre sie weich wie Butter. Das Ergebnis war eine weitere zerstörte Trainingsattrappe.
„..." Bahe war sprachlos... Machte der Kerl das extra?
„...", Tarat guckte dabei jedoch nicht minder verblüfft aus der Wäsche.
„Was zum Henker!", schrie Tarat dann plötzlich aufgebracht und machte seiner Frustration Luft. „Wer hat mir diese scheiß Qualität verkauft?! Da will man hier eine einfache Übungsdemonstration starten und die Dinger zerfallen wie die Knochen meiner Großmutter!"
Bahe konnte nur amüsiert den Mund halten. Fehlte noch, dass er für Tarat das Fass zum Überlaufen brachte.
„Arg, verdammt, bevor ich noch so ein Ding demoliere, machen wir es einfach ohne", entschied Tarat genervt und wandte sich an Bahe: „Also, schau her und pass auf."
Danach vollführte er dein Schlag ein weiteres Mal und schaute anschließend Bahe an.
„Hast du es gesehen?"
„Ich denke schon...", meinte Bahe, der nicht so ganz wusste, worauf Tarat hinaus wollte.
„Gut, dann schau dir auch diesen Schlag an", verlangte Tarat und machte sich an eine erneute Ausführung des Schwertschlags. Diesmal bewegte er sich jedoch dabei und machte ein, zwei Schritte in Angriffsrichtung. Sein Schwert peitschte jedoch nicht schneller als zuvor durch die Luft.
Nachdenklich runzelte Bahe die Stirn. Es sollte ja um die Beinarbeit gehen. War der Raumgewinn so wichtig? Klar, zum Ausweichen... Aber hier ging es doch um eine Angriffsbewegung... Auswirkungen auf die Wucht des Schwertschlags schien die Bewegung auch nicht gehabt zu haben...
Bahe war verwirrt.
„Und was war der Unterschied?", fragte Tarat.
„Du hast dich vorwärts bewegt."
„Genau, aber was noch?"
„Na ja... der Schlag mit dem Schwert sah genauso heftig aus, wie zuvor... Da gab es keine Unterschiede mehr."
Tarat grinste: „Hehe, du hast es also nicht gesehen."
Jetzt verstand Bahe gar nichts mehr.
„Ich habe mich nicht nur nach vorn bewegt, sondern auch leicht zur Seite", erklärte Tarat.
„Halte dein Schwert mal in beiden Händen vor dir in dieser Grundstellung", bat er Bahe und machte die Grundhaltung vor.
Bahe folgte seinen Anweisungen, stellte sich passend auf und nahm das Schwert so in beide Hände, dass die Spitze schräg nach oben zeigte.
Tarat stellte sich gegenüber von ihm auf und demonstrierte seinen Schlag diesmal etwas langsamer. Fast augenblicklich erkannte Bahe den Knackpunkt. Wäre Tarat einfach auf ihn zugelaufen, hätte Bahe, durch eine einfache Streckung der Arme, sein eigenes Schwert in Tarats Brust stoßen können, ehe dieser überhaupt seinen Schlag vollführt hätte.
Indem Tarat also nach rechts tänzelte, konnte er Bahes Schwertspitze ausweichen und gleichzeitig nah genug heran kommen, um mit seinem Schwertschlag einen Treffer zu landen.
„Hast du es jetzt gesehen?", fragte Tarat.
„Ja, du bist zur Seite ausgewichen, um meinem Schwert entgehen zu können."
„Genau", nickte Tarat ernst. „Nur durch gute Beinarbeit sicherst du dir in einem Kampf Mann gegen Mann einen Vorteil. Selbstverständlich kannst du durch gute Beinarbeit auch deinen Schlägen und Hieben mehr Kraft verleihen. Ich habe das nur nicht gezeigt, weil dies schon zu weit geführt hätte."
Und wahrscheinlich hättest du auch wieder irgendetwas zerstört... Dachte Bahe im Innern grinsend.
„Nun zu deiner Aufgabe...", zog Tarat die Spannung in die Länge und lächelte schadenfroh.
Teil 1/2!
RiBBoN
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Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2
FantasyIn einer nicht all zu fernen Zukunft schuftet sich Bahe jeden Tag ab, um seine Familie unterstützen zu können, die unter enormen Schulden leidet. Doch Monate nach dem Schulabbruch muss Bahe sich eingestehen, dass er an seine Grenzen gelangt ist. In...