Bahe war heilfroh, als er die Menschenmenge hinter sich gelassen hatte. Er war sich nicht sicher, wann das Ganze angefangen hatte, aber scheinbar war er für Spieler von Raoie inzwischen Teil der allgemeinen Belustigung.
Zwischendurch hatte er sich auch richtig nackt gefühlt, als ob irgendjemand durch ihn hindurch gesehen hätte. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen...
Und hatte er da vorhin richtig gehört? Es wurden schon Wetten auf ihn abgeschlossen?
Wenn er doch bloß auf die Idee gekommen wäre, jemanden zu engagieren, um einen Wettstand vor der Stadtmauer zu eröffnen... Er hätte eine Menge Geld machen können...
Die bescheuerten Gedanken aus seinem Kopf verbannend, setzte er seinen Lauf um die Stadtmauer fort und konzentrierte sich auf seine Atmung.
Sein Avatar Anael hatte in den letzten Tagen durchaus an Leistungsfähigkeit zugelegt. Die wenigen Attributpunkte die er pro Tag dazu bekam, waren bei seinem niedrigen Grundniveau durchaus zu spüren.
Klar, er lief immer noch langsam. Aber nicht mehr vollends wie eine Schnecke.
Ganz zu schweigen davon, dass er nach seinen täglichen Laufeinheiten nicht mehr vollends erschöpft war. Zu Beginn war er nach jedem Lauf zusammen gebrochen und hatte eine halbe Stunde seiner Spielzeit mit dem Bemühen zugebracht, sich überhaupt wieder hinstellen zu können. So sehr, hatten seine Beine gezittert.
Ihn graute es nur ein Bisschen bei dem Gedanken, dass es in der Realität immer noch so war.
Nach vierzig Minuten kam er endlich an dem Stadttor wieder an, an dem er vor etwa zwei Stunden gestartet war. An jedem Tag in Raoie, startete er seine Spielzeit mit diesem Lauf, um irgendwann die irrsinnigen Forderungen des Ausbilders Fenrirs bewältigen zu können.
Allein der Gedanke, dass sich seine Attributpunkte durch diese langweiligen Laufaktionen stetig verbesserten, brachte ihn dazu, sich Tag für Tag weiter zu quälen.
Immerhin hatte sich seine Zeit auch schon wesentlich verbessert. Zu Beginn hatte er noch hundertsechzig Minuten gebraucht. Von den über zweieinhalb Stunden hatte er sich inzwischen auf zwei Stunden herunter gearbeitet. Die starke Verbesserung lag aber wahrscheinlich einfach darin begründet, dass bei seinen schlechten Attributwerten jedwede Erhöhung einen enormen Unterschied machte. Gestern hatten sich seine Ausdauer, Physische Konstitution und Widerstandsfähigkeit auf die Werte der durchschnittlichen Spieler des Levels 10 erhöht. Zumindest, wenn Bahe seinen Online-Quellen vertrauen konnte.
Da jeder Spieler pro Levelaufstieg nur 2 Attributpunkte zur freien Einteilung bekam, war diese Vermutung gar nicht so unwahrscheinlich. Bei vierzehn verschiedenen Werten die man verbessern konnte, war allein durch Levelaufstieg keine allzu große Verbesserung der eigenen Avatarwerte gegeben. Gut, Bahe vernachlässigte an dieser Stelle, dass andere Spieler durch ihre Jagd auf Monster auch an Zusatzattributpunkte gelangen, aber man musste sich ja irgendwie selbst motivieren, oder?
Selbst Fenrir, der er ihn bisher immer nur runter gemacht hatte, konnte sich ein knappes Nicken angesichts seiner gestrigen Leistung abringen, ehe er erneut zu einer Standpauke ansetzte.
Letzten Endes würden die zwei Wochen, die er für das Tutorial V ohne gekaufte Nahrung und Wasser verbringen musste, wahrscheinlich nicht ausreichen, um die Strecke in der verlangten Zeit, von eineinhalb Stunden zu schaffen. Aber durch seine stetig anwachsende Ausdauer, würde es immerhin auch nicht viel länger unmöglich bleiben.
Auf dem Ausbildungsgelände ließ er seine Zeit noch kurz von Fenrir abnehmen, der dies mit mal wieder mit einem Nicken und der stumpfen Bemerkung, dass er jetzt bloß nicht übermütig werden sollte, quittierte, ehe sich wieder auf den Weg zum Stadttor machte.
Außerhalb des Stadttors angekommen, lief Bahe noch einige Meter weiter und kam zu dem Fluss, der ganz Waldenstadt durchquerte. Mit zittrigen Beinen ließ er sich auf den Boden fallen und atmete hektisch ein und aus. Es war unglaublich, wie real ihm dieser schwächliche Zustand seines Avatars vorkam. Er spürte, wie seine Beine vor Anstrengung schmerzten und sich verkrampft hatten und fragte sich insgeheim, ob diese Tatsache vielleicht auch etwas mit seinem Schmerzempfinden zu tun hatte.
Er konnte kaum glauben, dass Spieler ohne dieses hohe Schmerzempfinden, auf solche Dinge aufmerksam würden. Konnte ihm das im weiteren Spielverlauf Vorteile bringen?
Bahe zuckte die Schultern, in dieser Hinsicht konnte er wahrscheinlich nur schauen, was ihm die Zukunft brachte.
Da er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, zog er den Hauptteil seiner neuen Kleidung aus und sprang ins Wasser. Er schwamm ein paar Meter durch den Fluss, ehe er an den Uferbereich zurückkehrte, wo er stehen konnte und begann sich mit dem Flusswasser so gut es ging zu waschen. Anschließend holte er noch seine neu erstandene Kleidung und wusch auch diese ordentlich im Wasser aus.
Vor einigen Tagen hatte er doch tatsächlich feststellen müssen, dass man in Raoie einen gewissen Eigengeruch annehmen konnte, der in Interaktionen mit NPCs und Spielern alles andere als förderlich war. Sein früheres Erscheinungsbild hatte sein übriges dazu getan. Deswegen hatte er sich schließlich überwunden und neue Kleidung gekauft. Auch das Waschen im Fluss gehörte seither zu seinem Tagesablauf. In dieser Hinsicht war Bahe heilfroh, dass es in Raoie zur Zeit auf den Sommer zuging und nicht der Winter mit seiner Eiseskälte die Natur beherrschte. Als Spielanfänger mit wenig Geld hätte er keine Ahnung gehabt, wie er diese Probleme sonst gelöst hätte.
Das einzige körperliche Bedürfnis, das Raoie bisher nicht thematisierte, war der Toilettengang. Und Bahe war verdammt froh darüber. Man musste sich das nur mal vorstellen, was sollte man schon anstelle von Toilettenpapier benutzen?
Blätter von Bäumen? Ein Tuch? Wusch man Selbiges im Anschluss aus?
Bahe schüttelte sich allein bei der Vorstellung...
Nachdem er mit dem Waschen fertig war, hing er seine nasse Kleidung zum Trocknen über die Äste eines Busches und begann mit seinem Schwimmtraining, dass er für nützlich erachtete. Es brachte ihn nicht nur ab und an Attributpunkte ein. Es verbesserte auch stetig seine Schwimmfähigkeit.
In der nächsten Stunde, schwamm er so schnell sein Körper es ihm noch ermöglichte, immer wieder im Fluss auf und ab. Als er beim fünfzehnten Mal gegen die Strömung schwamm, klappte endlich ein Benachrichtigungsfenster auf:
Begeistert schwamm er daraufhin schnell zum Ufer und schüttelte das Wasser so gut es ging von seinem Körper, ehe er in seine fast trockenen Klamotten schlüpfte. Es war wirklich umständlich, dass er seinen Speichergegenstand nicht nutzen konnte. Ein Handtuch wäre echt hilfreich gewesen. Doch Bahe hatte sich dagegen entschieden eins zu kaufen, ehe die zwei Wochen vorbei waren. Allein der Gedanke, noch eine ganze Woche mit einem Handtuch über den Schultern durch die Gegend rennen zu müssen, hatte ihn davon abgeschreckt.
Nachdem er vollständig bekleidet war, rieb er sich die kalten Gliedmaßen. Es ging zwar auf den Frühling zu, aber das Wasser war bei so langem Aufenthalt immer noch verdammt kalt.
Erschöpft machte er sich auf, zum Terrain der Wildwurzelkaninchen. Es wurde Zeit, dass er sich sein Abendessen verdiente.
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Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2
FantasyIn einer nicht all zu fernen Zukunft schuftet sich Bahe jeden Tag ab, um seine Familie unterstützen zu können, die unter enormen Schulden leidet. Doch Monate nach dem Schulabbruch muss Bahe sich eingestehen, dass er an seine Grenzen gelangt ist. In...