Mit einem Seufzen ließ sich Huilan auf ihren Sitz in der U-Bahn nieder und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Sie plagten Gewissensbisse, wie sie mit Bahe umgegangen war. Der junge Ausländer hatte eigentlich nichts falsch gemacht und doch war sie beinahe vollkommen ausgerastet.
Wenn Bahe nur nicht so deprimiert gewesen wäre... Dieser Moment... in dem er so in Selbstmitleid versunken war.
Sie hatte sofort an ihren Vater denken müssen. Genauso hatte er damals ausgesehen, als er begann zu Flasche zu greifen. Immer und immer wieder hatte ihr Vater einfach nur so da gesessen und stumpf und teilnahmslos vor sich hin gestarrt.
Als sich ihre Erinnerungen in Bahes Verhalten spiegelten, hatte sie einfach nicht mehr an sich halten können. Sie schrie ihm immer wieder ihre unterdrückte Wut entgegen. Jeder Schrei befreite sie ein Stück mehr von all dem Schmerz, den sie über Monate in sich hinein gefressen hatte. Bahe war nur ein Ventil, welches sie so dringend gebraucht hatte.
Umso länger sie darüber nachdachte, umso mehr schämte sie sich für ihr Verhalten. Bahe wollte sich verteidigen können und was machte sie? Sie nutzte sein Vertrauen aus, reagierte sich an ihm ab und fügte ihm obendrein noch körperliche Schmerzen zu...
Morgen...
Ja, Morgen früh würde sie ihre Rolle als seine Trainerin richtig erfüllen. Jetzt musste sie zunächst mal wieder zur Ruhe kommen.
Gequält lächelte sie, als sie stumm durch ihr Abteil blickte. Sie musste sich zusammen reißen. Es konnte ja nicht angehen, dass sie bald auch noch unter Depressionen litt. Sie war eine Chin. Eine Chin weinte nicht. Eine Chin war nicht traurig. Die Chin-Familie war immer guter Dinge, also war sie das auch!
Sich selbst Mut machend, straffte sie ihre Haltung und murmelte leise: „Eines Tages wird Pá auch ohne Alkohol auskommen können... Ganz bestimmt..."
„Haha, da kommt also einfach so ein Bursche dahergelaufen und meint doch tatsächlich mir den Geldbeutel stehlen zu können. Du hättest sehen sollen, wie sich der Knilch gewunden hat, als ich ihn am Handgelenk packte und soweit hochhob, dass nicht mal mehr seine Zehenspitzen den Boden erreichten, haha!", lachte Tarat aus vollem Hals und ließ sich bequem auf einer Bank nieder. „Der Kerl hat zunächst mal seine wohlverdienten Ohrfeigen kassiert, ehe ich ihn anschließend gegen die nächste Hauswand geschleudert habe. Ich sage dir, irgendein Knochen ist da bestimmt zersplittert, zumindest dem Geräusch nach zu urteilen, haha. Aber da ist er halt selbst schuld, hehe."
„...", Bahe presste nur die Zähne aufeinander, während er sich krampfhaft darum bemühte, seine Haltung beizubehalten. Die „Bank" auf der Tarat in diesem Moment saß, war nämlich nichts anderes als Bahe, dessen Aufgabe darin bestand in einer Liegestützposition zu verweilen.
Nach einigen qualvollen Sekunden erhob sich Tarat wieder und verpasste ihm einen leichten Klaps auf den Hintern, während er meinte: „Du kannst wieder aufstehen."
Bahe wäre dem wohl nachgekommen, wenn der leichte Klaps Tarats nicht die Wucht einer ausgewachsenen Wildsau gehabt hätte und ihn zu Boden schleuderte.
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Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2
FantasíaIn einer nicht all zu fernen Zukunft schuftet sich Bahe jeden Tag ab, um seine Familie unterstützen zu können, die unter enormen Schulden leidet. Doch Monate nach dem Schulabbruch muss Bahe sich eingestehen, dass er an seine Grenzen gelangt ist. In...