„Du wirst an einer der Strohattrappen anfangen und den Oberhau etwa zwei- bis dreihundert Mal üben. Aber denke daran, dass dein Fokus auf der Beinarbeit liegen soll."
Tarat demonstrierte jeden einzelnen Schritt mehrmals und erläuterte auch, wie das Schwert von oben, leicht schräg gehalten, nach unten geführt wurde. Es gab mehrere Formen des Oberhaus. Mal wurde das Schwert beim Oberhau weit nach hinten gehoben, mal nur über den Kopf, mal mehr oder mal weniger schräg gehalten... Dazu kam dann noch die Beinarbeit, die im Grunde aus einem Nachstellschritt bestand. Aber all das in kurzer Zeit erklärt, forderte Bahes Konzentration doch sehr.
„Tarat, ich denke, ich habe alles verstanden. Aber sag mal, wieso bringst du mir ausgerechnet diesen Schlag bei?", fragte Bahe. „Ich meine... Dieser Oberhau ist eine so offene Schlagart, jeder menschliche Gegner kann die Lücken in meiner Verteidigung doch problemlos ausnutzen."
„Damit du genau zu dieser Erkenntnis selbst kommen konntest", sagte Tarat sichtlich mit ihm zufrieden. „Es kommen ständig junge Leute zu mir, die heroische Schwertkämpfer werden wollen und glauben, mit solch mächtigen Hieben, Kämpfe gewinnen zu können. Diese erste Lektion soll dir zum Einen die Wichtigkeit der Beinarbeit verdeutlichen und zum Anderen die Schwächen in großen Angriffsbewegungen aufzeigen."
„Ok, dass macht Sinn", stimmte Bahe zu.
„Dennoch kann es immer mal die Situation geben, dass ein solcher Schlag von oben von Nutzen sein kann und da der Oberhau so ziemlich die einfachste Angriffsform des Schwertkampfes ist, fange ich gewöhnlich damit an", erklärte Tarat noch weiter. „Oh, und dann wäre da noch eine dritte Sache. Hast du dich je gefragt, wieso nicht jeder Mensch Magier werden möchte?"
„Äh... nicht wirklich...", antwortete Bahe, dem dieser Gedanke tatsächlich noch nie gekommen war. Worauf wollte Tarat hinaus?
„Hat es nicht damit zu tun, dass viele Menschen für die Profession der Magier ungeeignet sind?", fragte Bahe schließlich.
„Da liegst du falsch. Für Menschen, die eine schlechte Affinität mit den Elementen haben, ist noch lange nicht alles verloren. Sie sind nur entweder auf glückliche Umstände angewiesen oder werden sehr viel länger brauchen, um sich den Elementen zu nähern. Aber letztendlich kann jeder Mensch ein Magier werden", sagte Tarat. „Was dann allerdings zu der Frage führt, wieso nicht jeder Mensch Magier wird, wenn diese doch so mächtig sind, nicht wahr?"
„Stimmt...", gab Bahe zu.
„Komm mal mit", wies Tarat ihn an und ging mit ihm zusammen zurück zur Waffenkammer. Bahe folgte ihm bis in die hinterste Ecke des Gebäudes. Hier lag normalerweise alles im Dunkeln und wurde nur von einer Kerzenlampe, die Tarat mit sich trug, erleuchtet. Zu Bahes Erstaunen, zog Tarat plötzlich an einer Fackelhalterung, wodurch sich die Wand an der Stelle zurückzog und den Blick auf eine steinerne Treppe freigab, die nach unten führte.
Oha! Bahes Augen glitzerten sofort begeistert, als er begriff, dass sich hier eine seltene Gelegenheit auftat.
„In der Regel müssen sich die jungen Leute erst beweisen, bevor ich die ein oder anderen hier hinunter führe", sagte Tarat und begann die Treppe hinab zu steigen. „Aber bei dir mache ich mal eine Ausnahme. Du bist tatsächlich der Erste, der mich sofort darauf angesprochen hat, wieso ich ihm unsinniges Zeug beibringe, anstatt abzuwarten, haha. Diejenigen die es bisher bemerkten, haben sich nie getraut mich direkt damit zu konfrontieren, haha."
Da schnellte er plötzlich herum und fragte Bahe mit zusammengekniffenen Augenbrauen: „So einschüchternd bin ich doch gar nicht, oder?"
„Äh... nein... natürlich nicht...", stotterte Bahe vor Schreck.
„Wusste ich es doch! Haha!", lachte Tarat und ging weiter.
Verdammt nochmal...
Wenn Tarat nur wüsste wie gruselig das gerade gewesen war, dachte Bahe und atmete tief durch. Der Bastard musste diese Kerzenleuchte bei seiner Frage natürlich genau unter sein Gesicht halten. Jeder Horrorstreifen ließ da grüßen... Soviel zu nicht einschüchternd...
Nachdem er sich halbwegs beruhigt hatte, folgte er Tarat weiter hinunter. Die Treppe führte kreisförmig hinunter und war zwar nicht übermäßig lang, aber als sie schließlich in einer Art Halle ankamen, war sich Bahe ziemlich sicher, dass sie sich mindestens drei Stockwerke unter der Erde befanden.
„Warte kurz", meinte Tarat und ging ohne auf eine Antwort von Bahe abzuwarten weiter.
Bahe sah nur, wie sich die einzige Lichtquelle nach und nach weiter von ihm entfernte, bis sie schließlich verschwand und ihn in vollkommener Dunkelheit zurückließ.
Es war seltsam so plötzlich in der Finsternis zu stehen. Fast augenblicklich beschleunigte sich seine Atmung, nur um sich kurze Zeit später wieder zu beruhigen, als er sich innerlich immer und immer wieder sagte, dass die Treppe direkt hinter ihm war. Selbst, wenn Tarat nicht zurückkäme, würde er den Rückweg auch alleine finden. Notfalls auf Händen und Knien mit langsamen vortasten.
Dann erstrahlte die Halle auf einmal in hellem, weißlichem Licht vieler Kristalle, die an den Wänden und der Decke angebracht waren.
Bahe seufzte aufatmend und staunte nicht schlecht, dass die Halle doch noch um einiges größer war, als anfänglich von ihm gedacht.
„Beeindruckend, nicht wahr?", fragte Tarat, der an einem Ende der Halle hinter einer Säule hervor gekommen war.
Bahe nickte nur und sah sich um. Die Halle erstreckte sich über mindestens achthundert Meter in der Länge und dreihundert Meter in der Breite. Nie im Leben hätte er damit gerechnet so viel freien Raum unterhalb der Erde zu finden.
Über die ganze Länge der Halle waren immer wieder kreisförmige Steinformationen im Boden zu erkennen und auch die Wände ließen entsprechende Muster erkennen.
„Dies hier ist die Trainingsstätte für uns Ausbilder oder auch für all diejenigen, die außerordentliches Talent bewiesen haben", fuhr Tarat fort. „Und wir sind hier, um deine Frage vollständig beantworten zu können."
Tarat stellte die Kerzenlampe auf den Boden ab und ging zu einer Art trat erneut hinter die Säule, hinter der er zuvor schon einmal verschwunden war. Es dauerte nicht lang, da kam Leben in eine der kreisförmigen Flächen auf dem Hallenboden. Die Steine in der Kreisformation glühten auf und wuchsen zu einer Art Mauer, welche sich in die Höhe erhob. Kaum einen Moment später trat Tarat wieder hinter der Säule hervor und stellte sich mitten auf eine kreisförmige Fläche die sich an seinem Ende der Halle befand.
„Bleib dort stehen und bewege dich ja nicht", sagte er und fügte nach einem Moment mit einem Augenzwinkern hinzu: „Oh, und ich würde dir empfehlen bei meiner nächsten Aktion genau hinzuschauen."
Direkt danach zog er sein Schwert und hob es über den Kopf. Bahe erkannte ohne Probleme die Grundhaltung des Oberhaus. Doch dann war Bahe auf einmal wie gebannt. Verblüfft schaute er auf das Schwert Tarats, welches in einem gräulichen Licht erstrahlte.
Es dauerte nur ein paar Sekunden bis die Intensität des Lichtes ihren Höhepunkt erreicht hatte. Dann schrie Tarat plötzlich auf und riss das Schwert mit aller Kraft nach vorn herunter. Doch damit war es nicht getan. Das gräuliche Licht schoss von seinem Schwert davon und flog mit unfassbarer Geschwindigkeit auf die Mauer zu. Mit einem Krachen prallte das Licht schließlich gegen die Mauer und eine Staubwolke breitete sich aus.
Vor Neugierde brennend, musste Bahe abwarten, bis sich der Staub gelegt hatte. Doch die Mauer stand noch!
Verwirrt schaute er zu Tarat, der bereits auf ihn zukam und seine Enttäuschung scheinbar bemerkte. Amüsiert verzog dieser seinen Mund zu einem Grinsen und meinte erneut augenzwinkernd: „Warte ab."
Teil 2/2!
RiBBoN
PS: Morgen geht es weiter ;-)
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Die Legende vom Elementflüsterer - Band 1 + 2
FantasyIn einer nicht all zu fernen Zukunft schuftet sich Bahe jeden Tag ab, um seine Familie unterstützen zu können, die unter enormen Schulden leidet. Doch Monate nach dem Schulabbruch muss Bahe sich eingestehen, dass er an seine Grenzen gelangt ist. In...