Jorge Méndez - Cold
Ich raufe mir die Haare. Ich habe diese Geschichte noch nie jemandem erzählt. Wie sollte ich sie überhaupt erzählen? Wie sollte ich beginnen? »Ich und Katie - wir sind vor zwei Jahren beide auf der Uni gewesen. Besser gesagt hat sie vor sechs Jahren angefangen und ich vor vier«, sage ich schließlich.
Anna sieht mich mehr als überrascht an: »Du warst auf der Uni?«, fragt sie fassungslos. Ich nicke. »Naja, unsere Eltern sind gestorben, als ich fünfzehn war. Sie hatten einen Autounfall. Jedenfalls haben sie uns Geld für unser Studium hinterlassen. Wir hatten auch vor dem Unfall nie viel Geld, weshalb ihre Ersparnisse natürlich nicht reichten. Katie hat aus diesem Grund in einem Café gekellnert und ich habe neben dem Studium in einem Supermarkt gearbeitet. Meine Schwester und ich haben uns echt gut verstanden und hingen viel zusammen rum. Deshalb hatten wir auch eine recht ähnliche Clique. Ich hatte zwar außerhalb von der Uni noch ein paar Kumpels, aber meistens hingen wir mit anderen Studenten ab. Vor zwei Jahren -«, ich schlucke und muss mich zusammenreißen, denn die Wut und die Trauer um ihren Verlust kochen wieder in mir hoch. Und das nach eineinhalb Jahren Verdrängung.
Anna sieht mich aufmerksam an und am liebsten würde ich ihre Hände in meine nehmen, doch sie ist sauer und verletzt, daher lasse ich es. »Naja - vor zwei Jahren kam ein Typ aus unserer Clique, er war genau wie meine Schwester im letzten Studienjahr, auf die Idee mit der ganzen Clique einen Ausflug zum Zelten zu machen. Meine Schwester war natürlich sofort Feuer und Flamme und hatte das Glück-«, ich kann ein Schnauben bei diesem Wort nicht unterdrücken, denn es ist wohl eher Pech gewesen. »- sie hat frei bekommen. Ich leider nicht. Alli war damals auch in unserer Clique. Sie ist mitgefahren. Ich glaube sie waren letztendlich etwa zehn Leute.«
Ich wende mich von Anna ab und gehe in Richtung Couch. Ich muss mich bewegen. Ich kann das nicht erzählen, wenn sie mir schweigend gegenüber steht. Ich höre, dass sie mir folgt. Ich drehe mich wieder zu ihr um und gehe im Wohnzimmer auf und ab.
»Sie wollten ihre Zelten in einem Wald irgendwo im Harz aufschlagen, der nach Norden hin in ein paar Klippen ausläuft. Nicht besonders hoch - vielleicht zehn Meter. Unten gab es einen See, zu dem sie im Laufe der Woche auch noch runterfahren wollten. Am dritten Abend, saßen sie, wie die vorherigen Abende an den Klippen um ein Lagerfeuer herum. Im Wald konnten sie bei der trockenen Luft schließlich kaum ein Feuer machen. Naja, sie haben ziemlich viel getrunken und natürlich viel dummes Zeug gelabert. Chris ist dann wohl irgendwann aufgestanden und näher zum Rand der Klippen gegangen. Er meinte, dass es doch sicher lustig sei, runterzuspringen und in den See unten schwimmen zu gehen. Meine Schwester, musst du wissen, stand zu der Zeit auf Chris. Sie hat sich zu ihm gestellt und er hat angefangen sie zu provozieren. Er meinte, dass sie sich nicht trauen würde dort runterzuspringen, weil sie immer nur so taff tat - Gott verdammt, er war so ein Arschloch. Keine Ahnung, was sie an ihm fand!«, unterbreche ich mich selbst.
Ich sehe zu Anna. Sie folgt mir mit den Augen und sieht betroffen aus, obwohl ich noch nicht mal fertig mit Erzählen bin.
»Katie war immer sehr - sehr abenteuerlustig und liebte den Adrenalinkick. Sie hat sich jedoch geweigert, die Klippe runterzuspringen. Die Anderen haben angefangen zu rufen, sie solle es tun. Haben in die Hände geklatscht. Katie hat sich jedoch weiterhin geweigert. Sie meinte, dass sie zwar den Kick bei sowas liebte, aber nicht lebensmüde sei. Sie müssten erst abchecken, wie tief der - der beschissene See überhaupt wäre, hat sie entschieden !«, sage ich und meine Stimme zittert. Scheiße nochmal.
»Und dann? Was ist dann passiert?«, fragt Anna sanft und ich spüre ihre Hand, die sich von hinten auf meiner Schulter legt. »Dieser Wichser Chris hat natürlich mitgegrölt, sie waren wie gesagt alle betrunken oder zumindest angetrunken. Auch meine Schwester, aber sie hat sich weiterhin geweigert. Dann ist es Chris wohl zu langweilig geworden, denn er hat sie geschubst. Er - scheiße - er hat ihr einfach einen Stoß gegeben und sie ist gefallen. Alli und die anderen sind natürlich sofort zum Rand der Klippe gerannt. Meine Schwester hat auf dem Weg nach unten geschrien. Und dann haben sie gesehen, wie ihr Körper auf den Steinen aufgekommen ist, die nur ganz leicht aus dem flachen Wasser herausgeragt haben.«

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If You Stay
ChickLitABGESCHLOSSEN (22.09.2018) Anna Lena hat eine Geschichte, die sie zu der gemacht hat, die sie heute ist. Schüchtern, introvertiert und unerfahren. Diese Geschichte hat sie nach Berlin geführt, wo die junge Studentin sich dem Unileben stellt. Es daue...