Dieser Abend war so verflucht lang, so unendlich lang. Rachel hasst jede einzelne Minute davon. Ganz ungeduldig stapft sie umher, versuchte mit ihrer angeblichen Familie zu reden, aber die Zeit wollte nicht schnell voranschreiten. Doch nach unendlich langer Zeit, länger als eine Schulwoche gefühlt, erlöste man sie endlich. Alle verabschiedeten sich lang und ausgiebig, während Rachel beinah vor Neugier und vor der eventuellen Erfüllung ihres Schicksals platzt. Ein Kuss hier, ein Kuss da, beinah hätte sie sogar ihre Tante angeschrien, dass sie endlich gehen soll, damit sie endlich zu Hause ihren Brief lesen kann. Und nach ein paar nachträglichen Minuten sitzt sie endlich im Auto, auf dem Weg nach Hause. Der Schlüssel wird ins Zündschloss gesteckt und sie fahren los. Zum Glück ist es nicht weit von hier, das wäre ja eine Katastrophe! "Schatz? Ist alles in Ordnung", fragt ihr Vater, als sie aus dem Wagen an ihrem Haus aussteigen. "Jaja. Ich will einfach nur schlafen gehen."
"Och nicht doch. Die Party geht..."
"ICH WILL SCHLAFEN", schreit Rachel ihren Vater an. "ICH HABE KEINEN BOCK AUF EINE BESCHISSENE PARTY MIT LEUTEN, DIE WAHRSCHEINLICH NICHT EINMAL MIT MIR VERWANDT SIND!" Sie brüllt unheimlich laut und es ist ein Wunder, dass die halbe Nachbarschaft nicht aufwacht. "Was redest du da meine Kleine? Wir sind deine..."
"LÜGNER", faucht sie ihn wild an und geht stapft Richtung ihres Zimmers. Ihr Vater und ihre Mutter eilen hinterher, berühren sie liebevoll an der Schulter. In diesem Moment, in der sternenklaren Nacht, ziehen finstere Wolken auf. Der Wind beginnt plötzlich stärker zu wehen. Rachel weiß, dass sie der Auslöser dafür ist. Immer, wenn sie emotional instabil, ob Wut oder Trauer, beginnt sich das Wetter zu ändern. Ein Donnergrollen gesellt sich hinzu. Nah, sehr nah, keinen Kilometer entfernt. Zugleich beginnt es zu regnen. Das Wetter spielt Rachels Gefühlswelt wieder. Regen für Trauer, Donner für Wut und Unwetter dafür, dass sie selbst keine Kontrolle über sich hat. Um sie herum scheint ein eigener, nicht sichtbarer Sturm zu toben. Selbst ihre Eltern spüren es und lassen sie los. "Wann hattet ihr es mir vor, dies zu sagen? WANN? WENN ICH 21 BIN, ZU EINEM BESONDEREN GEBURTSTAGSTAG ODER WAS? ODER WENN ICH REIF GENUG BIN?" Ihre Eltern erstarren, schauen sie verblüfft an. "Rachel. Hör uns zu, bitte. Wir verstehen, dass du wütend bist, aber höre uns zu, bitte. Wir lieben dich doch." Redet ihre Mutter traurig mit ihr, verzweifelt. Sie liebt sie doch, über alles. "Wer sind meine Eltern", fordert sie. "Rachel, wir..."
"WER SIND MEINE ELTERN!" Der Donner wird immer heftiger, verflucht laut zudem, als sei er direkt über ihrem Haus. Die Wolken werden immer dunkler, immer finsterer, als wolle die Natur selbst alles zerstören. Ihre Stimme ist zornig, wie der Donner und duldet keinen Widerstand. Die beiden angeblichen Eltern erzittern. "Wir... wir wissen es nicht Rachel. Wir haben dich aufgezogen, wir haben dich gefunden, mit einem Brief, welchen wir nicht lesen können. Bitte, vertraue uns", fleht ihre falsche Mutter sie an. "Gib mir sofort den Brief! Und dann gehe ich auf mein Zimmer und ihr lasst mich heute Nacht in Ruhe! Ist das klar?"
"Aber..."
Ein Blitz schlägt im Nachbarhaus ein. Es kracht natürlich laut, die Nachbarn sind dadurch sicher wach geworden, als der manifestierte Zorn Rachels in das Nachbarhaus einschlägt. Irgendwie, wenn sie gut ist, kann sie Handlungen genauer steuern, aber auch nur in höchster Form der Trauer und Wut. "ICH WILL DEN BRIEF! AUF DER STELLE!" Selbst ihr Vater, der beim Militär hochrangig tätig ist, aber ein herzensguter, kein strenger Erzieher war, erzittert unter ihrer Stimme. "Okay Schatz. Okay. Geh auf dein Zimmer und ich bringe ihn dir. Dann reden wir Morgen in Ruhe", beschließt ihr Vater. "Aber...", will ihre Mutter beginnen zu reden, aber ihr Vater unterbricht sie. "Nein Christine. Ich gebe ihr den Brief und wir lassen sie heute in Ruhe. Also Rachel: Wenn du willst gehe auf dein Zimmer und ich bringe dir den Brief, okay?" Rachel dreht sich um, die Tür öffnet sich, ohne dass sie diese mit einem Schlüssel öffnet, was sie selbst aber in ihrem Zorn nicht bemerkt. So stapft sie wütend auf ihr Zimmer, während der Regen heftiger wird und sie sich noch mehr fragt, wer sie den eigentlich sei. Sie geht die Treppe hoch, öffnet mit menschlicher Kraft die Tür und knallt sie hinter sich zu. Ihre schwarze Handtasche wirft sie in die Ecke, die Schuhe streift sie lieblos ab und wirft sich dann auf ihr Bett. Sie weint, weint und weint. Zorn steigt in ihr auf. Ihr Leben ist eine Lüge, einfach alles. Keine Familie, kein Leben, sie ist nicht einmal wirklich normal. Nichts ist wahr, alles ist Lüge, Trug und Verrat. Sie hält ihre Hände vor ihr Gesicht, um die Tränen zu verbergen, obwohl sie selbst ihre Innenhände benetzt mit den Tränen ihrer Trauer. Sie hatte nichts und niemanden.
Es klopft an der Tür. "Schieb den Brief unter dem Schlitz durch", meint sie heulend. "Schatz, soll ich reinkommen", fragt ihr "Vater" besorgt. "Nein. Lass es sein!"
"Vergiss nie, dass ich dich Liebe. Bis morgen früh, mein Engel. Du kannst jederzeit zu uns kommen." Rachel ignoriert es, springt auf, holt den normalen Brief und geht wieder auf das Bett. Rasch öffnet sie den Brief, den ihre Eltern ihr angeblich geschrieben haben. "Was zum Teufel ist das?" Schrift, klar, aber was für eine? Zeichen, unbekannte Buchstaben und Symbole, weder Latein, noch eine andere ihr bekannte Sprache. Keine germanischen, keine alten Sprachen, die ihr bekannt sind. Solche Zeichen hat sie noch nie in ihrem ganzen Leben gesehen, noch nie! "Also eine Sackgasse. Erfahre ich nicht einmal wer meine Eltern sind? Scheiße! Fuck!" Ihr ganzes Leben kommt ihr so nutzlos vor. Wer ist sie denn, wenn sich nicht einmal ihre eigene Identität kennt, ihre Herkunft, wer sie ist? Sie hat keinen Bezug, hatte nie einen, sie entwickelte sich selbst, frei, ohne eine Richtlinie. Zitternd nimmt sie den magischen Brief der fremden Frau in die Hand. Sie blickt ihn an. Ihr Name steht darauf. Rachel, einfach nur Rachel, doch jeder Buchstabe ist geschwungen und sie glitzern auf einmal, was sie vorhin nicht taten. Blau und Grün leuchten sie auf. Rachel. Gerade als den Brief mit ihren stark nervösen Händen öffnen wollte, öffnet sich der Brief automatisch, und ein Papier fliegt vor ihre Nase. "Was? Ein weißes Blatt? Ist das dein Scheiß ernst?" Im Moment ihres beinahigen Zusammenbruchs, ertönt eine Stimme, die aus dem Blatt kommt. "Hallo liebe Rachel. Mein Name ist Madame Cairne, Direktorin der Schule Meliodae in der gleichnamigen Welt. Du brauchst mich nichts zu fragen, dieser Brief ist lediglich eine Aufnahme, stell es dir wie eine Sprachnachricht vor." Auf dem Blatt erscheint kurzzeitig ein riesiges, weitläufiges Gebäude, aus dem Nichts, als würde es sich selbst zeichnen. "Wir beobachten viele wie dich und auch du, bist etwas ganz Besonderes. Du hast früh gemerkt, dass du anders bist, dass du nicht auf diese Welt gehörst, dass du einsam dich fühlst, fehlplatziert. Du beherrschst die Fähigkeiten, Elemente zu steuern, wenn du emotional angegriffen bist. Nun, du bist anders. Deine leibliche Mutter ist anders sowie deine Großmutter, Urgroßmutter und so weiter. Sie alle sind begabt, tragen wie du Magie in sich. Du bist eine Hexe Rachel, wie viele andere auch, die verwirrt sind und in den letzten Tagen ihr Schicksal durch diesen Brief offenbart bekommen haben. Deine Talente gehören in die Welt der Hexen. Dort lernst du, Magie zu kontrollieren, dass Leben in unserer Welt. Du wirst Lachen, leben und sicher auch lieben. Nimm dein Schicksal an, dass dir von Geburt an durch deine Mutter in die Wiege gelegt wurde. Werde eine Hexe, fange an zu leben und zu begreifen, wer du bist. Aber bedenke: Es gibt kein zurück. Der Preis für dein Ich bedeutet, alles zurückzulassen auf der Erde. Du kannst nicht mehr zurück, entdeckst dich aber selbst. Das ist eine schwere Frage. Du kannst bis morgen früh sieben Uhr überlegen. Wenn du bereit bist, antworte: Ich, Rachel, eine zukünftige Hexe von Meliodae, bin bereit für mein Schicksal." Die Stimme räuspert sich kurz. "Doch vorher packe deine Sachen, verabschiede dich, berühre alles und sage dazu, dass nehme ich mit und spreche dann die Worte, dass du bereit bist. Diese Worte lassen dich sofort in unsere Welt eintreten. Wie auch immer du dich entscheidest, deine Entscheidung wird die Richtige sein." Damit endet die Stimme, doch das Bild der Schule bleibt. Darunter finden sich Fotos von aktuellen Jahrgängen,-Es scheinen zusammen nur sechs Jahrgänge zu sein. So ziemlich alle wirken glücklich und die Bilder bewegen sich, in einem wiederholenden Muster. Sie schaut sie die Bilder genau an. Nur Frauen, nur, in ihrem Alter ungefähr. Sie betrachtet alle genau. Manche wirken überheblich, egoistisch, aber alle schauen sie glücklich. Bis auf eine. Sie sieht nicht traurig oder wütend aus, sondern leicht gelangweilt. Sie kann bis auf das ebene Gesicht und das feuerrote Haar kaum etwas erkennen, da jene Frau mehr im Hintergrund sich steht. Laut dem Brief befindet sich im dritten Jahrgang. Nachdem sie eine Weile die Bilder betrachtet hat, zieht sie ihre Schuhe an, nimmt ihren Koffer aus dem Schrank und denkt dabei an Hexen. Oft sind sie hässlich, mit Warzen bestückt, bucklig und haben eine fiese Stimme. Aber es sind ganz normale Lebewesen. Sie kann es selbst nicht glauben. Sie ist eine Hexe! Eine lebendige Hexe! Schnell, aber ordentlich packt sie ihre Kleidung zusammen, Schuhe, wichtige Bücher, alles, was ihr wichtig erscheint. Es dauert etwas, aber ihr Koffer ist bald voll, mit allem, was sie benötigt. "Das nehme ich mit", sagt sie, als sie ihren Koffer berührt. Ihre Hand leuchtet kurz auf, wie ihr Koffer und erlöscht schnell wieder. Eilig starrt sie auf ihre Hand. "W...war ich das? Wirklich?" Sie betrachtet ihre Hand, aber etwas Magisches daran entdeckt sie nicht mehr. Rachel unterlässt die Untersuchung und nimmt ihre beiden Briefe in die Hand. Sie denkt gar nicht daran, ihrer falschen Familie auf Wiedersehen zu sagen. Diese Menschen bedeuten ihr rein gar nichts.
Rachel atmet tief durch. Ihr Herz pocht ganz aufgeregt. Würde sich nun alles ändern? "Ich, Rachel, eine zukünftige Hexe von Meliodae, bin bereit für mein Schicksal." Schon als sie die Worte formt, leuchtet der Brief heller auf, immer heller wird er. Es wird so hell, dass Rachel die Augen schließen muss. Sie fühlt massenweise Magie, in einer Menge, wie sie diese noch nie gefühlt hat. Deutlich spürt sie, wie sich ihre Umgebung verändert. Also ist es doch wahr. Sie ist eine Hexe und würde in eine Welt eintauchen, ihre Welt, in einen Neuanfang.
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Akademie der Hexen | girlxgirl [Abgeschlossen]
FantasiaRachel war schon immer anders. Die Natur schien mit ihr zu reden, sie konnte Dinge verwandeln, ihre Haarfarbe ändern wie und wann sie wollte. Sie fühlte sich stets in der Welt der Menschen fremd und ist heilfroh, ihre zwölfte Klasse abgeschlossen zu...