Tonks' Gedanken kreisten so sehr um Remus, dass sie zeitweise sogar ihre Trauer um Sirius vergaß.
Er machte es ihr wirklich nicht leicht – aber eigentlich hatte sie das auch nicht erwartet. Er brauchte einfach ein bisschen mehr Zeit. Es wäre wohl am besten, sie ihm zu gewähren. Vorerst jedenfalls.
Für die Hogwarts-Schüler brachen die Sommerferien an und Tonks ließ es sich nicht nehmen, mit einigen anderen Ordensmitgliedern den Dursleys eine Drohung auszusprechen, die sämtliche Knuddelmuffs in Angst und Schrecken versetzen würde. Es war wirklich eine willkommene Ablenkung.
Remus jedoch machte ihr das Leben nicht gerade einfacher. Er war so zurückhaltend geworden, dass er sie, wenn überhaupt, nur noch ganz flüchtig umarmte. Sie fragte sich, ob er wusste, dass sie über seine Gefühle im Bilde war oder ob er glaubte, sie würde der Ansicht sein, dass er nichts für sie empfand und ihr deshalb aus dem Weg ging.
Auch, wenn sie sich vorgenommen hatte, ihm Zeit zu geben, wurde sie zunehmend ungeduldiger.
„Verdammt, Tonks, er hat gerade seinen besten Freund verloren, wie würdest du dich da fühlen?", ermahnte sie sich selbst und schluckte bei den schmerzenden Gedanken, die sich bei den Erinnerungen an Sirius unaufhaltsam in ihr Bewusstsein drängten.
Obwohl sie ihn weniger als ein Jahr gekannt hatte, war er ihr schon unfassbar ans Herz gewachsen. Er war wirklich eine Art Bruder für sie gewesen und nun... war er fort. Einfach so, doch unwiderruflich.
Ihre Augen brannten. Schnell versuchte sie, an etwas anderes zu denken. Doch es war nicht möglich. Sie vermisste ihn so sehr... seine blitzenden Augen, sein schelmisches Grinsen, sein bellendes Lachen... Nur seinetwegen hatte sie ihre Gefühle für Remus entdeckt, obwohl er selbst kein Glück in der Liebe gehabt hatte...
Tonks erstarrte. Worte, lange vergessen, trieben zurück in ihre Erinnerung: „Es ist in Ordnung, Sirius, aber ich schwöre dir: Wenn ich auch nur einen einzigen Tag länger leben sollte als du - ich werde das klären. Ich werde mit Chloe reden und ihr eintrichtern, dass du alles andere als ein Geisteskranker bist, sondern eher der witzigste Typ, den ich kenne!"
Sie hatte einen Schwur geleistet und würde ihn auch halten. Das war das Mindeste, das sie tun konnte.~
Ein paar Tage später lief Tonks nervös am Hafen von Portsmouth entlang, einer schönen Stadt an der Südküste Englands.
Es hatte sich als schwieriger als erwartet entpuppt, Chloes Aufenthaltsort ausfindig zu machen, insbesondere deshalb, weil sie ihren Nachnamen nicht gekannt hatte, doch schließlich hatte sie Erfolg gehabt, ihren Beziehungen zu Dumbledore und dem Ministerium sei dank.
Schnellen Schrittes bog sie in eine Straße ab und klingelte schließlich an einem unscheinbaren, weißen Gebäude mit moderner Haustür und gepflegten Vorgärten.
„Wer ist da?", fragte eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Tonks schwieg einen Moment, zum einen, weil sie durch die bei Zauberern seltene Sprechanlage überrascht war, zum anderen, weil sie sich dummerweise überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hatte, was sie sagen sollte. „Hallo?", fragte die Stimme.
„Äh, ja, hallo, hier ist Nymphadora Tonks – sind Sie Chloe Waterfield?"
„Einen Moment bitte."
Tonks hörte Schritte, die näher kamen und verstummten, weil sie vermutlich durch den Türspion blickte. Schüchtern lächelte Tonks und ließ nervös eine rosafarbene Haarsträhne durch ihre Finger hindurch gleiten. Vielleicht hätte sie unauffälliger auftreten sollen... wie sollte sie reagieren, wenn die Frau sie nicht einließ?
Doch ihre Bedenken lösten sich sofort in Luft auf, als die Tür entriegelt wurde und eine Frau mit langen, blonden Haaren und Sommersprossen heraustrat. Obwohl sie wohl auf die vierzig zugehen musste, war sie noch recht hübsch, aber vor allem ungemein attraktiv, mit einer Ausstrahlung, als sei sie von einem gleißenden Licht umgeben.
„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?", fragte sie freundlich und lächelte Tonks an.
„Äh", begann sie stotternd, „ich – wollte mit Ihnen über Sirius Black sprechen... wenn es, ähm, für Sie in Ordnung ist." ‚Idiot', schalt Tonks sich innerlich. Gerade jetzt, wo bekannt geworden war, dass Er-dessen-Namen-sie-immer-noch-nicht-aussprechen-konnte tatsächlich lebte und wieder die Macht zu ergreifen versuchte, war diese Vorgehensweise nicht klug gewesen.
Der Blick der Frau wurde für einen Moment unergründlich, ihre Augen hörten auf zu leuchten, ihr Lächeln erstarb. „Kommen Sie aus privaten oder beruflichen Gründen?"
„Aus privaten", gab Tonks zu, „aber bitte – ich habe wichtige Informationen für Sie – bitte geben Sie mir nur fünf Minuten..."
„In Ordnung", seufzte Chloe. „Kommen Sie rein – aber ich muss darauf bestehen, Ihren Zauberstab zu nehmen."
„Danke", sagte Tonks erleichtert, auch wenn ihr bei der Vorstellung, ihren Zauberstab abzugeben, überhaupt nicht wohl war. Sie wusste, dass sie in höchster Lebensgefahr schweben würde, wäre Chloe bereits Teil der Todesser, aber sie würde keinen Rückzieher machen. Sie würde das klären, wie sie es geschworen hatte, für Sirius.
„Ähm – hier – und soll ich meine Schuhe ausziehen oder-?"
„Nein, nein, die können Sie ruhig anlassen", entgegnete Chloe, wieder freundlicher, während sie den Zauberstab entgegennahm.
Sie führte sie durch einen in hellblauen Farben gestrichenen Flur in ein weitläufiges, lichtempfängliches Wohnzimmer aus dunklen Korbmöbeln, die hervorragend mit der hellbeigen Tapete und den vielen saftiggrünen Pflanzen harmonierten.
„Bitte." Chloe lächelte und bot ihr einen Platz auf dem Sofa an.
„Danke." Verlegen nahm Tonks Platz. Chloe setzte sich auf ein zweites Sofa ihr gegenüber.
„Also... ich weiß nicht so ganz, wie ich anfangen soll... ähm... also Sirius... ist vor einigen Tagen... verstorben." Mühsam kämpfte Tonks gegen die Tränen an, die schon wieder drohten, sich in ihren Augen anzuhäufen wie in einem Sammelbecken. Noch war von seinem Tod im Tagespropheten nichts berichtet worden, auch wenn sie nicht ganz verstand, warum Dumbledore das noch nicht eingeleitet hatte, doch sicher würde er seine Gründe haben. Vielleicht glaubte er, die Welt sei nach der Verkündung von der Rückkehr des bösesten Zauberer aller Zeiten noch nicht bereit für eine weitere schockierende Neuigkeit oder dergleichen.
Chloe atmete erleichtert auf und rieb sich über das Gesicht. „Zum Glück", sagte sie, „ich hatte wirklich Angst, er könnte hier auftauchen und-"
„Sie haben ein völlig falsches Bild von ihm!"
Tonks sprang auf und nun brannten tatsächlich Tränen in ihren Augen. „Er – es ist alles nur ein riesiges Missverständnis gewesen – und war niemals böse. Er – er war..." Sie verstummte und ließ sich kraftlos aufs Sofa sinken.
Chloe schaute sie an, in ihrem Blick schienen von Unglauben, Verständnislosigkeit und Angst über Mitgefühl und Mitleid bis hin zu Neugierde und Überraschung alle Emotionen vertreten zu sein.
„Die Zeitungen werden das bald schreiben", murmelte Tonks leise, „aber ich wollte es Ihnen persönlich sagen."
Chloe forderte sie stumm auf, weiterzusprechen. Tonks atmete tief durch und begann, zu erzählen, von der Intrige, die Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf geplant hatte, Peters Verrat, seinem Ausbruch aus Askaban und dem Jahr, das er rund um Hogwarts verbracht hatte bis hin zum Kampf in der Mysteriumsabteilung. Sie erzählte alles, soweit sie konnte, ohne die Geheimnisse des Ordens zu verraten, weit länger als fünf Minuten, doch Chloe lauschte ihr gebannt, bis auch ihr irgendwann Tränen in die Augen traten.
„Ich konnte es nicht glauben", wisperte sie, „ich wollte es nicht glauben. Vielen Dank, dass Sie mir all das erzählt haben." Tonks schluckte heftig, ihre Gefühle waren nun, da sie von Sirius erzählt hatte, wieder vollständig aufgewühlt.
„Eines noch", murmelte Tonks behutsam, „als er – damals – Geheimnisse vor Ihnen hatte – er – ich kann nicht viel darüber sagen, aber er tat es nur, um Sie zu schützen. Sie waren die einzige Frau, die er je geliebt hat."
Nun begann Chloe endgültig zu weinen; sie schluchzte bitter auf und wischte ihre Tränen schnell mit dem Ärmel weg. Tonks stand auf, lief langsam um den Tisch herum, setzte sich neben sie und legte ihr tröstend eine Hand auf den Rücken.
„Tut mir leid", wimmerte Chloe. „Ich kann nur – ich..."
„Es ist in Ordnung", erklärte Tonks und lächelte sanft.
„Er – das muss furchtbar für ihn gewesen sein-" Chloe beschwor ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase, „er war so lange unschuldig gefangen und alle glaubten, er hätte – all diese Menschen – dabei war er..." Sie schniefte. „-und dann eingesperrt in ein Haus, für den Rest seines Lebens, bis zu seinem Tod..."
„Er hat sein Leben gelebt", entgegnete Tonks mit zitternder Stimme, „er hatte auch wieder gute Zeiten – wenn er etwas tun konnte, war er voller Tatendrang – und trotz allem konnte er immer noch lachen..."
„So etwas kann nur Sirius", sagte Chloe unter Tränen, „er war so unglaublich stark... wie konnte ich nur glauben, dass er – er würde nie – und jetzt kann ich mich nicht einmal bei ihm entschuldigen, weil ich ihm misstraut habe – mich nicht einmal verabschieden..."
„Wir alle hielten ihn für schuldig. Selbst die, die ihm am nächsten waren, konnten es nicht durchschauen. Sie trifft keine Schuld, Chloe."
„Danke", murmelte Chloe aufgelöst, „danke."
„Ähm... wenn Sie kommen möchten – die Beerdigung ist am 06. Juli. Es gibt zwar keine – nichts, das man begraben könnte, aber symbolisch... Es ist zwar nur ein kleiner Kreis, aber er hätte bestimmt gewollt, dass Sie dabei sind..."
„Danke", wiederholte Chloe nach Fassung ringend.
„Sie ist um 6:00 Uhr morgens, am Friedhof in Godrick's Hollow. Sirius hat Sonnenaufgänge geliebt, weil sie ihn durch die Farben immer an Gryffindor erinnert haben – und in Askaban waren es die Sonnenaufgänge, die ihm die Kraft gegeben haben, nie aufzugeben - deshalb..."
Die Blondine nickte stumm, ihr tränennasses Gesicht war vom Weinen gerötet.
„Er bekommt das Grab neben Lily und James", murmelte Tonks. Ihre Stimme zitterte noch immer.
„Das ist... rührend... dann ist er zumindest wieder bei seinem besten Freund... Lily und James waren so tolle Menschen... und auch sie mussten so früh gehen..." Chloe setzte sich auf und schluckte. „Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich möchte Ihnen noch einmal danken, dass Sie sich die Zeit genommen haben – ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn ich es durch die Zeitungen erfahren hätte... und verzeihen Sie, dass ich Ihnen den Stab weggenommen habe... hier."
Tonks schüttelte den Kopf. „Nein, das war richtig so. Wir müssen jetzt alle enorm vorsichtig sein."
Chloe nickte, während Tonks ihren Zauberstab an sich nahm.
„Kommen Sie zurecht, oder soll ich noch...?"
„Nein, nein, mir geht es gut, keine Sorge", erklärte Chloe hastig. „Mein Mann kommt auch bald nach Hause und kann dann für mich da sein. Kann ich Ihnen noch irgendwas Gutes tun, als Dank für Ihre Mühen?"
„Das ist lieb, aber nein", winkte Tonks ab. Sie fühlte sich, nachdem sie das alles losgeworden war, deutlich besser. „Passen Sie auf sich auf – und machen Sie sich bloß keine Vorwürfe, ich habe erst letztens gemerkt, dass man sich das Leben damit nur unnötig schwer macht!" Sie zwinkerte Chloe zu und machte sich auf den Weg in die sonnenbeschienene Straße, aus der sie gekommen war.
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Frage an EUCH: Welchen Zauberstab mögt ihr aus der HP-Reihe vom Design her am meisten?
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Weil du mich zum Menschen machst
FanfictionRemus Lupin X Nymphadora Tonks. Als Remus Lupin im Kindesalter mit Lykanthropie infiziert wurde, änderte sich sein Leben schlagartig: Er musste sich fortan damit abfinden, sein Leben als Monster, als Ausgestoßener der Gesellschaft zu fristen. Nie...