Auf dem großen Felsen

1.4K 94 38
                                    

Das Schweigen hielt an.

Lupins Herz raste, während er auf eine Antwort wartete.

Warum musste der scheinbar Einflussreichste so unfassbar furchteinflößend sein?

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe Fidian mit seiner hohen Stimme das Wort ergriff:
„Noch nie hat ein Außenstehender bei einer Versammlung vorsprechen dürfen. Wäre es kein wirklich großes Ereignis, so wäre es nicht einmal Rorian gestattet."

Lupin verkrampfte sich kaum merklich. Dies würde eine gelungene Ausführung der Mission fast unmöglich machen...

„Sie allerdings sind kein gewöhnlicher Außenstehender", fuhr Fidian fort, „Sie haben ein Mitglied dieser Herde gerettet, als es dringend Hilfe benötigt hat und außerdem wäre es durchaus im Bereich des Möglichen, dass wir aus den Informationen einen Nutzen ziehen könnten. Daher soll es Ihnen ausnahmsweise gestattet sein. Ich werde sogleich alles in die Wege leiten."

Es war, als hätte man eine unfassbare Last von Lupins Schultern genommen. Wenn ihm jetzt noch die Rede gelänge... was könnte er damit erreichen?

~
Lupin betrachtete nervös die immer unaufhörlich wachsende Zentaurenmasse, die sich vor dem großen Felsen auftat. Auch, wenn viele anderer Meinung waren, so war er doch nie der geborene Redner gewesen.
Oft mochte er vielleicht selbstbewusst und strukturiert erscheinen, aber er fühlte sich stets unwohl, wenn ihm zu viel Aufmerksamkeit zuteil wurde.
In einem geschlossenen Kreis wie dem Orden, zu dessen Mitgliedern er auch weitestgehend eine freundschaftliche Verbindung pflegte, hielt es sich noch im Rahmen, aber hier war nicht nur die Anzahl der Zuhörer merklich erhöht – sie waren auch noch alle völlig fremd und hegten eine ziemlich feindselige Art gegen Seinesgleichen.
Hinzu kam noch, dass es nicht irgendwelche Wesen waren, sondern die ziemlich intelligenten Zentauren, die dazu neigten, schon kleine Unstimmigkeiten bemerken zu können. Jedes Wort musste mit Bedacht gewählt sein und das verstärkte die Spannung und Nervosität wiederum, was allerdings die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass er einen Fehler machte. Diese Angst wiederum setzte ihn zunehmend unter Druck. Es war ein Teufelskreis.
Dass die Mission ziemlich bedeutsam war, sorgte auch nicht dafür, dass er sich weniger unbehaglich fühlte. Nicht zu vergessen, dass sich die Blicke unzähliger Zentauren argwöhnisch auf ihn richteten.
Mittlerweile hatte sich herumgesprochen, dass ein Mensch befugten Zutritt zu ihrer Unterkunft erhalten hatte, doch war es nicht vollständig ausgeschlossen, dass irgendein Zentaur ihn trotzdem angriff.
Selbst bei seinen UTZ-Prüfungen, die für ihn als Werwolf weit wichtiger waren als für alle anderen, war er weniger aufgeregt gewesen. Es schien völlig außerhalb des Rahmens zu sein. Er konnte nur noch darauf hoffen, dass man ihm die Aufregung wie üblich nicht ansah.

„Entspann dich", sagte Tonks, als hätte sie seine Gedanken gelesen, was ihn unwillkürlich zusammenzucken ließ, „ich bin mir sicher, dass dir das Vorsprechen gelingen wird."

Dass Tonks bemerkt zu haben schien, wie nervös er war, war gar nicht gut. Sie standen beide etwas abseits von der Menge auf der saftigen Grünfläche. Obwohl kein Zentaur in Hörweite war, hatten sie vorsorglich ausgemacht, nichts zu sagen, was ihre Tarnung aufzudecken drohen konnte, weshalb sie selbst hier auf ihre Formulierungen achten mussten.
Wichtig war aber in erster Linie, dass man sie zusammen sah, um zu veranschaulichen, dass man auch ein gutes Verhältnis zu Menschen haben konnte. Nur durften sie nicht zu lange reden, damit Rorian nicht wie eine Verräterin ihrer Art erschien.

„Sehe ich so gestresst aus?", fragte Lupin und fuhr sich nervös durch die Haare.
„Abgesehen von diesem Moment eben – nein", antwortete Tonks schlicht.
„Aber du hast bemerkt, dass ich nervös bin", entgegnete Lupin verwirrt.
„Du solltest meine Menschenkenntnis nicht unterschätzen", erwiderte Rorian und Lupin war sich sicher, dass Tonks im Normalfall dabei auf ihre sympathische Art gelacht hätte, müsste sie nicht ihre Tarnung aufrecht erhalten.
„Schon bei unserer ersten Begegnung erschienst du mir wie jemand, der zwar stets souverän wirkt, aber nicht gerne im Mittelpunkt steht."

Damit hatte sie die Alraune bei der Wurzel gepackt.
So eine gute Beobachtungsgabe und Einschätzungsfähigkeit hatte er ihr gar nicht zugetraut. Oder war es einfach Intuition? Tonks war jedenfalls stets für eine Überraschung gut.

„Abgesehen davon ist es nur natürlich, aufgeregt zu sein", fuhr Tonks lächelnd fort, „aber ich habe sichtlich mehr Grund dazu, da ich noch vor dir an der Reihe bin."
„Wohl wahr", bestätigte Lupin, während er sich schmunzelnd daran erinnerte, dass Sirius und James vermutlich ohne jegliche Nervosität auf den Felsen stolziert wären und eine riesige Showeinlage geliefert hätten. Die beiden waren einfach unvergleichlich.
„Danke, Rorian", lachte Lupin, „du hast mich gerade an etwas erinnert. Jetzt fühle ich mich wirklich etwas besser." Ob sie wohl absichtlich darauf angespielt hatte, um ihm die Spannung zu nehmen?
„Keine Ursache", antwortete Tonks mit einem zaghaften Lächeln. „Oh, sieh mal, es tut sich etwas!"

Tatsächlich lief ein älterer weißer Zentaur mit kurzem grauem Spitzbart geradewegs auf den Felsen zu.
„Ist das ihr Anführer?", wollte Lupin wissen.
„So etwas in der Art", erklärte Tonks, „einen Anführer, wie man ihn sonst kennt, gibt es in dieser Herde nicht. Er ist eher ein Leiter des Ganzen. Hier gibt es an sich eine Gleichberechtigung, die Fidian durchgesetzt hat. Dadurch und durch seine ganze Art ist er im Ansehen anderer aber enorm gestiegen, sodass er und auch der weise Soran bei solchen Versammlungen den organisatorischen Teil übernehmen, weil die anderen Zentauren es so wollten.
Eigentlich ist es ziemlich ironisch: Indem Fidian die Anführer abgeschafft hat, ist er zu einer Art Anführer geworden. Aber auch schon davor hatten die anderen großen Respekt vor ihm. Er hat eine wirklich besondere Art an sich.
Einerseits ist er eigentlich wirklich fair, aber andererseits kann er auch enorm bedrohlich werden, vor allem, wenn der Stolz –äh– unserer Art in seinen Augen beschmutzt wird.
Ich habe einmal gesehen, wie er sich wahrhaftig gestritten hat. Er ist nicht laut geworden, aber trotzdem... es war... wirklich furchteinflößend. Eren ist einer der ganz wenigen, der sich überhaupt traut, etwas Provokantes in seiner Gegenwart zu sagen - und oh je. Soran ist gleich oben. Also dann. Wünsch mir Glück."

„Alles Gute", sagte Lupin mit einem klopfenden Herzen und beobachtete, wie Tonks sich auf den Weg zum Felsen machte. Er hätte noch ein Stück mit ihr gehen können, aber behielt sicherheitshalber einen Abstand bei, damit sie auf andere Zentauren nicht zu vertraut wirkten.

„Seid gegrüßt, meine werten Freunde, Brüder und Schwestern!" rief Soran mit lauter Stimme aus und erhielt ebenfalls freundliche Worte des Grußes als Antwort.

„Ich bin euch wie immer zu Dank verpflichtet, da ihr meinem Aufruf gefolgt und erschienen seid.
Wir haben heute vielerlei Angelegenheiten zu besprechen. Zunächst möchte ich noch einmal daran erinnern, dass die Sterne in dieser Nacht besonders klar erscheinen werden. Sobald der Orion den Himmel erhellt, werden wir uns alle auf den Wiesen einfinden, um unser Studium fortzusetzen.
Bevor wir nun aber zum nächsten Punkt kommen, gibt es vorab eine Nachricht, die einige von euch sicherlich traurig stimmen wird. Seid unbesorgt, es ist niemand ums Leben gekommen oder dergleichen. Rorian, darf ich dich zu mir bitten?"

Erhaben schritt die Zentaurendame auf die Spitze des Felsen zu und kam neben Soran zum Stehen.
Unterdessen war auch Lupin beim großen Felsen angekommen, bereit, ihn zu betreten, wenn die Zeit gekommen war. Vorsorglich positionierte er sich so hinter einem Baumstamm und einem großen Busch, dass er von der Zentaurenmenge abgeschirmt war, sollte jemand wider Erwarten einen Pfeil auf ihn schießen. Doch mittlerweile waren die meisten Augenpaare auf Rorian und Soran gerichtet.

~
Tonks schien innerlich fast zusammenzubrechen, als sie auf die gewaltige Anzahl der Zentauren herabblickte. Abgesehen vom Einschleusen war dies mit Sicherheit der schwierigste Teil, den sie für diese Mission bewältigen musste:
Ihr musste es nicht nur gelingen, die Botschaft zu übermitteln, dass sie fortmüsse, so, dass die anderen dafür Verständnis aufweisen würden – sie müsste bei all ihrer Nervösität ohne Auffälligkeiten den hochgestochenen Sprachstil der Zentauren verwenden, den Hass gegen den Unnennbaren schüren, Rorians Leid authentisch zum Ausdruck bringen, Lupin vorstellen und das alles, ohne vor Nervosität zu kollabieren.

Sie nahm kaum wahr, wie Soran langsam kehrt machte und vom Felsen herunterschritt. Es schien ihr so unfassbar nah, dass sie sich dem Orden angeschlossen hatte und nun war ihr bereits eine Aufgabe von so enormer Wichtigkeit anvertraut worden. Mit diesen Zentauren auf ihrer Seite könnte es ihnen gelingen, den Krieg für sich zu entscheiden. Vielleicht waren sie die entscheidende Komponente. Und in diesem Fall – lastete das Schicksal der Welt nun wohl auf ihren Schultern.

‚Bitte, Stimme, sei kraftvoll genug, um zu allen durchzudringen', flehte sie im Stillen, ‚bitte, Herz, lass mich fühlen, was Rorian fühlen würde, damit ich überzeugend wirke. Bitte, mein ach so blödes Hirn, lass mich die Worte nicht vergessen, die ich mir zurechtgelegt habe!'

Tonks atmete noch einmal tief durch, ehe sie zu sprechen begann:

„Auch ich möchte euch alle ganz herzlich grüßen! Es ist noch nicht lange her, dass ich zu euch gestoßen bin und jede Sekunde meines Lebens werde ich euch dankbar dafür sein! Doch es hat sich etwas ereignet, dass meine momentane Situation verändert hat. Um dies zu erklären jedoch gestattet mir, ein wenig auszuholen:
Die meisten von euch wissen bereits, dass... mir meine Herde... auf... - Verzeihung – brutalste Weise genommen wurde ... Ich wusste bislang nur, für wen sie arbeiteten: Für Ihn, dessen Namen nicht genannt werden darf, denn er hat eine Möglichkeit der Rückkehr gefunden, so viele dies auch zu leugnen versuchen."

Die Menge zeigte sich vollkommen reglos, da es als unhöflich erachtet wurde, den Sprechenden zu unterbrechen oder zu widersprechen, solange man nicht selbst auf dem großen Felsen stand oder eine Gesprächsrunde eingeläutet war, doch waren die Gedanken der Zentauren von ihren Gesichtern abzulesen:
In das einiger weniger Zentauren stand Überraschung geschrieben – das waren scheinbar jene Zentauren, die von Rorians Reden noch nichts mitbekommen hatten. Das der meisten spiegelte eine hohe Skepsis wieder, doch auf vielen ihrer Gesichter vermischten sich Argwohn und Angst gleichermaßen. Einige weitere Zentauren schienen geradezu alarmiert, während sich wieder andere gar nichts anmerken ließen.

„Nun habe ich die Identitäten derjenigen in Erfahrung bringen könnten, die dafür verantwortlich sind", fuhr Rorian fort. „Der Schmerz, den ich durch den Verlust meiner Freunde, meiner Familie erfahren habe, ist unvorstellbar. Wie wäre es für euch, wenn jemand diese ganze Herde vernichten würde und ihr als einziger übrig wärt?
Es fühlt sich an, als würde man innerlich zerreißen.
Als würde man fallen, immer tiefer, ohne Halt.
Ohne die Chance, diesem endlosen Loch der Verzweiflung je wieder zu entfliehen.
Es ist mittlerweile über einen Monat her und doch schmerzt jedes einzelne dieser Wörter, jeder Gedanke an sie.
Doch dank euch habe ich wieder ein wenig Halt finden können. Und da mir nun die Möglichkeit gegeben wurde, mich zu rächen, werde ich einen weiteren Schritt tun, um aus dieser Verzweiflung zu entrinnen.
Doch dafür muss ich euch verlassen. Ich kann nicht anders.
Sämtliche Fasern meines Körpers verlangen danach, endlich Gerechtigkeit walten zu lassen. Und obgleich es wirken mag, als täte ich das nur für mich, so trage ich doch gleichzeitig einen Teil im Krieg gegen Ihn, dessen Name nicht genannt werden darf, bei.
Ich muss es tun.
Und ich bitte um eure Nachsicht.
Versucht, zu verstehen, wie es ist, wenn man ins Nichts fällt, weil ihr alles verloren habt. Es ist meine Chance, etwas Gutes zu tun und dabei gerettet zu werden.
Ich könnte mir nicht verzeihen, würde ich diese Möglichkeit nicht ergreifen. Ich werde einen anderen Pfad beschreiten, doch euch alle werde ich immer in Erinnerung behalten. Euch gebührt mein ewiger Dank. Auf dass die Sterne uns heute wie in Zukunft verbinden mögen."

Tonks atmete innerlich auf. Den zumeist traurigen Gesichtern und dem zustimmenden Nicken der meisten Zentauren zufolge, war ihr die Ansprache geglückt. Der erste Teil war geschafft.

______________________

Eine Frage an euch habe ich übrigens noch: Was ist subjektiv gesehen euer Lieblingszentaur, sprich, welchen der Zentauren mögt ihr am meisten?

Weil du mich zum Menschen machstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt