Obwohl Tonks sich bemühte, an jedem einzelnen Tag festzuhalten, ehe Remus sich dieser fürchterlichen Gefahr aussetzen würde, sehnte sie sich auch gleichermaßen die Zeit herbei, in der er fort sein würde. Nicht nur, weil sie ihm dann nicht über den Weg laufen würde, sondern viel mehr, weil von dort an jeder Sonnenuntergang das Ende der Mission näherbringen würde.
Und doch, als der September sie schließlich überfallen hatte, wünschte sie sich dennoch, dass noch Zeit blieb. Doch schon verkündete der aufgehende Mond ahnungslos das Ende der letzten Momente, die man guten Willens noch als sorgenfrei bezeichnen konnte.
Tonks betrachtete die schimmernde Kugel durch das hölzerne Fenster eines kleinen Hauses, das während ihrer Arbeit in Hogsmeade Sammelplatz und Wohnort der Auroren war. Es war in einem alten Stil gehalten, doch die vielen hölzernen Möbel, die durch den Kamin beleuchtet wurden, vermittelten eine gemütliche Atmosphäre.
Sie ließ ihren Blick über Proudfoot, Savage und Dawlish streifen, die stumm der trockenen Einweisung über die genauen Regeln und vorgeschriebenen Verhaltensweisen in bestimmten Situationen lauschten, die sie seit Stunden erhielten. Regeln und Vorschriften, fast gleich denen, die Tonks damals in der Aurorenschule beigebracht bekommen hatte. Mühsam wandte die junge Hexe den Kopf wieder Robards zu, einem älteren Mann mit ernstem Gesicht, der nach Scrimgeour die Leitung der Aurorenzentrale übernommen hatte.
Tonks unterdrückte ein Stöhnen, als Dawlish neben ihr zum wiederholten Male eine unnötige Frage stellte. Sie hatte gehofft, dass die Arbeit an diesem Sonntag vielleicht ein wenig davon abhalten würde, an Remus zu denken, doch vergebens.
Ewigkeiten später, wie es schien, entließ Robards sie mit dem Auftrag, die Schüler des Hogwarts-Expresses zum Schlossgelände zu eskortieren. Der Gedanke an Harry, Hermine und Ron, die sie gleich wiedersehen würde, verbesserte ihre Stimmung zumindest ein wenig.
Wie sich allerdings herausstellte, sollte sie nur Harry in Richtung des Schlosses begleiten, weil er durch eine Auseinandersetzung mit dem jungen Malfoy zunächst verhindert gewesen war. Ihn aus dieser Misere befreit zu haben, war einer der schwachen Lichtblicke der letzten Wochen. Zumindest eine gute Tat.
Auf dem Weg durch die Finsternis fühlte sich Tonks neben Harry jedoch merkwürdig verlassen. Immer wieder drängten sich die Gedanken in ihr Bewusstsein, wie es jetzt wohl wäre, mit Sirius Seite an Seite zum Schloss zu laufen, oder mit Remus...
Remus, der nur in wenigen Stunden eine Mission antreten würde, von der er wahrscheinlich nicht zurückkehren würde.
Remus, der den Tod ihr vorzog.
Remus, von dem sie sich nicht verabschieden würde. Der Schmerz war auch so schon entsetzlich genug.
Wieder erinnerte sie sich daran, ihre Maske aufzusetzen, damit Harry nicht merkte, wie miserabel sie sich fühlte, doch sie wusste, wie kläglich sie scheiterte. Wie an allem, an dem sie sich in letzter Zeit versuchte.–
Es war noch stockfinster, als sie die Augen aufschlug. Automatisch glitt ihr Blick zu ihrem Wecker. 3:21 Uhr. Erschöpft drehte sie sich auf die andere Seite, während die alte Matratze unter ihrem Gewicht ächzte. Natürlich. Sie hatte sich entschlossen, in Hogsmeade zu übernachten, nachdem es ihnen freigestellt worden war. Sie hatte ihrer vorigen Welt so fern wie möglich bleiben wollen, doch als sie zwei Stunden später noch immer nicht wieder eingeschlafen war, wusste sie, dass sie mit dieser ungewohnten Umgebung einen riesigen Fehler gemacht hatte.
Was Remus jetzt wohl tat? Schlief er noch oder bereitete er sich schon auf die Mission vor? War er womöglich sogar schon fort?
Ein leises Schnarchen tönte aus dem Nebenraum zu ihr herüber.
War das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte, wirklich schon Vergangenheit?
Ihre Gedanken überschlugen sich, und Stunde um Stunde zog an ihr vorbei, ohne, dass sie wieder einschlafen konnte.
Sollte sie sich doch verabschieden? Sie würde es sich nie verzeihen können, wenn er starb und sie im Streit auseinandergegangen waren...
Die Sonne begrüßte den Tag freundlich, als Tonks sich endlich entschlossen hatte. In Windeseile zog sie sich Strümpfe und Schuhe an, streifte eine Jacke über ihren Schlafanzug und verließ ihre Wohnung, um zum Grimmauldplatz zu apparieren.
Eilends betrat sie das Haus und stürmte in die Küche, in der sie in ihrer Hast sogleich eine Glasflasche von der Ablage stieß, die laut klirrend am Boden zerschellte.
Fünf Köpfe fuhren zu ihr herum, doch keiner davon gehörte zu der Person, die sie gerade um jeden Preis sehen wollte.
Molly, Arthur und Bill starrten sie überrascht an, während Dädalus ihr freundlich zuwinkte und Fleur, die ihr neulich in den Orden aufgenommen worden war, ihr sehr missbilligend zulächelte.
„Wo ist Remus?", fragte Tonks ohne Umschweife.
„Oh, Schätzchen, Remus ist schon weg – ehrlich gesagt, wir haben nicht damit gerechnet, dass du noch kommst..." Molly sah sie mitfühlend an. „Aber setz dich doch erstmal und nimm dir etwas von den Eiern mit Speck, Kind, du bist ja ganz blass!"
„Er ist... weg?", fragte Tonks mit zittriger Stimme.
„Vor etwa zwanzig Minuten abgereist, tut mir leid", sagte Arthur mit mildem Lächeln. „Aber Molly hat recht, iss ein wenig von den Eiern mit Speck, die schmecken ganz vorzüglich!"
„Nein, danke, ich...", stammelte Tonks und biss die Lippen zusammen. Es war ihr, als wäre eine Welt zusammengebrochen. Wie gering standen die Chancen, dass sie ihn je wieder sah? Sollte es wirklich so enden?
„Wir sollen dir etwas von ihm ausrichten."
Bills Stimme ließ Tonks, die sich schon zum Gehen gewandt hatte, kurz innehalten.
„Was hat er gesagt?", fragte sie matt.
„‚Danke. Danke für alles.'"
Ohne einen letzten Blick zurück verließ Tonks den Raum. Sie überging, wie Fleur missbilligend darüber sprach, dass sie immer alles kaputt machte, sie überging, dass ihr schon wieder Tränen in die Augen traten und sie überging, dass ihr Getrampel Mrs. Black in ohrenbetäubenden Lärm ausbrechen ließ. Für den Augenblick war alles zerstört.
–
Entschlossen setzte Lupin einen Fuß vor den anderen, wissend, dass er sich mit jedem Schritt weiter von den Menschen entfernte, die er liebte.
Die Sonne schien, doch die zahlreichen Bäumen fingen ihr Licht auf. Der Wald war beinahe finster. Zum tausendsten Mal bemühte er sich hinzunehmen, dass sich die Festung nun einmal in einem Wald befand. Es war absehbar gewesen, dass sie fernab der Zivilisation sein würde, aber dieses Dickicht und seine gesamte Situation erinnerten ihn stark an die Zentauren-Mission, der er sich damals angenommen hatte.
In beiden Fällen war er allein und unter größter Anspannung zwischen den finsteren Bäumen umhergelaufen, um die Aufgabe zu erfüllen, die ihm anvertraut worden war. In beiden Fällen galt es, friedlich zu erscheinen, seine Rolle glaubhaft zu verkörpern und das Vertrauen jener zu erlangen, die es zu überzeugen galt. In beiden Fällen war er einer Gefahr ausgesetzt, die ihn daran erinnerte, wie kostbar ein schlagendes Herz doch war.
Und doch, nichts war wie damals. Diesmal war er noch weiter entfernt von London.
Diesmal würde er für Monate weg sein, wenn er denn überhaupt so lange überlebte.
Diesmal würde er selbst bleiben, wenn sie keine Anstalten machten, zu Dumbledore überzulaufen, weil er sie ausspionieren musste.
Diesmal bekäme er es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit kaltblütigen Mördern zu tun.
Diesmal... würde Tonks nicht auftauchen, um ihm beizustehen.
Abermals verbot er sich, an die junge Hexe zu denken, die er damals kaum gekannt hatte und ohne die er sich jetzt unerträglich leer fühlte. Stattdessen konzentrierte er sich so gut es ging auf seine Sinne.
Die Bäume vor seinen Augen. Sein Mund, der wie ausgetrocknet schien. Das Gefühl, wenn seine Füße den Boden berührten. Der Geruch des Waldes. Und irgendwo, weit weg vom Rascheln des Laubes und dem Knistern der Zweige, Stimmen.
Der Gedanke, bald an dem Ort angekommen zu sein, an dem sich möglicherweise derjenige befand, der ihm so viel Leid zugefügt hatte, ließ Lupins Beine bleiern werden.
‚Für das Wohl der Welt', erinnerte er sich in Gedanken, als er sich zwang, die verbleibenden Meter zu überwinden.
Sofort, als die Bäume sich lichteten, wusste Lupin, warum die Unterkunft der Werwölfe den Namen „Festung" trug: Das Gebäude nahm fast die gesamte freie Fläche ein und die natürlichen Felswände zogen sich ein Dutzend Meter in die Höhe. Der Stein wirkte dunkel, obwohl die Sonne ihn erreichen konnte und an den wenigen Aussparungen, die es für Fenster und Türen gab, konnte man erahnen, dass es auch im Inneren dunkel sein würde. Einige Absenkungen, die höhlenartig in die Erde führten, zeigten, dass sich die Festung sogar unterirdisch fortsetzte.
Es war ein Ort, der von Beginn an versprach, unhygienisch, unbequem und trostlos zu werden. Genau die Art von Unterkunft, in der Lupin immer befürchtet hatte, zu landen.
Obwohl er es so erwartet hatte, hasste er sein neues Zuhause auf den ersten Blick. Sein neues Zuhause, das womöglich sein Grab werden würde.
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Frage an EUCH: Wie glaubt ihr wird es Remus in der Festung ergehen?
Funfact: Die Uhrzeit 3:21 Uhr wurde gewählt, weil es zeigen soll, wie aus dreien zweie und schließlich einer wurde, als Lupin vollständig außer Reichweite schien
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Weil du mich zum Menschen machst
FanficRemus Lupin X Nymphadora Tonks. Als Remus Lupin im Kindesalter mit Lykanthropie infiziert wurde, änderte sich sein Leben schlagartig: Er musste sich fortan damit abfinden, sein Leben als Monster, als Ausgestoßener der Gesellschaft zu fristen. Nie...