50. Kapitel

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Alan schulterte seinen Rucksack. Lächelnd hob er den Blick und sah hinauf zu den spärlich begrünten, langgezogenen Hügel die sich vor ihnen erhoben. Die vielen kahlen Stellen, die braune Löcher in den Wald rissen, schrieb er der momentan herrschenden Hitze zu.
Zum ersten Mal seit langem würde er wieder den Weg gehen, dem er als kleiner Junge bereits gefolgt war.
Aufgeregt drehte er sich zu seinen Kameraden um. Diese schienen weit weniger begeistert.
Toby mühte sich genervt mit dem Reisverschluss seines Rucksacks ab. Der grosse, schlaksige Junge hatte schlechte Laune. Sie hatten die letzten drei Wochen intensiv trainiert und obwohl Alan schon beachtliche Fortschritte feststellen konnte, war Toby ungeduldig. Für ihn ging das Ganze viel zu langsam voran.
Danny indessen war mit seinen Gedanken bereits wieder weit weg. Mit glasigen Augen starrte er aufs Meer hinaus.
„Seid ihr soweit?", fragte Alan in die Runde.
Das verhaltene Nicken genügte Alan und er schritt freudig voran. Toby und Danny folgten.
Am Fuss der Hügel begann der schmale Waldweg.
Toby's kritischer Blick fiel auf ein altes, rostiges Schild:" Lieber Zauberer, schau nicht zurück und bleib nicht stehen, sonst wird dir das Lachen schnell vergehen. Was soll das denn heissen?"
Alan winkte ab:" Das sollte zur Abschreckung dienen, um den Kindern Angst zu machen."
„Aber wieso Zauberer? Gehört das Gebiet hier etwa auch ihnen? Wenn das wieder so ein Magie verseuchte Sache ist, komm ich nicht mit!" Toby verschränkte trotzig seine Arme.
„Glaub mir Toby, diesmal ist absolut keine Magie im Spiel. Der Weg ist wirklich wunderschön.", Alan ging weiter. Er kannte inzwischen Tobys Zweifel.

Der Weg zog schnell an. Sie liefen schweigend, jeder darauf bedacht das Tempo zu halten.
Alan konnte nicht aufhören zu grinsen. Er fühlte sich wieder als sei er zehn Jahre alt.
Er fasste in seiner Jackentasche nach dem langen, feinen Holzstab der ihn seit jenem Tag begleitete. Ein Überbleibsel einer beinahe vergessenen Zeit.
Es war bereits Nachmittag, als sie endlich oben ankamen. Voller Vorfreude tat Alan die letzten Schritte, bis auf den ebenerdigen Weg, der sich gemächlich über die Hügel zog. Von hier oben hatte man einen atemberaubenden Blick über die scheinbar endlose Hügellandschaft zu ihrer Linken und das unendlich scheinende Meer zu ihrer Rechten. Doch es war nicht so wie er es in Erinnerung hatte. Statt sattes Grün, waren all die Hügel bedeckt mit grauer Asche.
Alans Freude verschwand augenblicklich, als er die Bäume sah. Wo einmal allerlei prächtige Baumarten den Weg säumten, waren bloss kahle Baumstümpfe übrig geblieben. Der Waldweg an dessen Rande zuvor Apfel und Kirschbäume erblühten und immergrüne Tannen die Stellung hielten, war leer. Übrig geblieben war nichts als Asche.
Alan spürte einen Stich im Herzen.
„Alan, alles in Ordnung?", Dannys sanfte Stimme vermochte nicht zu ihm durchzudringen.
Wie betäubt setzte er einen Fuss vor den anderen, zu der Stelle an der der alte, knorrige Haselnussbaum einst stand. Beim Anblick seines traurigen, leblosen Baumstumpfes gaben seine Knie nach. Mit Tränen in den Augen zog er den Holzstab aus seiner Tasche und legte ihn vor sich hin. Seine Hände gruben sich in die kalte Asche. Sie hatten ihm wirklich alles genommen, sogar diesen Baum.
„War dieser Baum besonders wichtig für dich?", Danny kniete sich neben ihn. Seine hellen, blauen Augen spiegelten seine eigenen Trauer wieder.
„Ja, er hat mir den hier geschenkt", er zeigte auf seinen schlichten Holzstab. Er räusperte sich, denn er hatte das Bedürfnis Danny zu erklären, warum der Baum eine Bedeutung für ihn hatte. Mit rauer Stimme begann er zu sprechen;"Bei den Warmblütern gibt es ein altes Ritual. Mit zehn Jahren bekommt man seinen Zauberstab. Jedoch muss man sich diesen erst verdienen. Dieser Weg hier, heisst nicht umsonst Zauberpfad. Einmal im Jahr versammelte sich die gesamte Zauberergemeinschaft am Fuss der Hügel, um dem Spektakel beizuwohnen", er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dies waren lange vergangene Erinnerungen.
„Jeder angehende Zauberer im Alter von zehn Jahren wurde einzeln losgeschickt, egal bei welchem Wetter. Um die Hügel ranken sich dunkle, beängstigend Märchen, die den Kindern Angst machen sollten und von den Eltern und Geschwistern mit Begeisterung geschürt wurden. Deshalb hatten so ziemlich alle der Kinder grosse Angst, obwohl sie das nie zugeben würden", Alan musste gegen seinen Willen Lächeln, als er daran dachte wie aufgeregt und ängstlich er damals gewesen war;" Auf diesem Weg befanden sich alle Baumarten die es gibt. Sie waren so alt wie unsere Welt selbst und voller Magie. Sie wählten sich die jungen Zauberer aus, die sie für würdig erachteten und schenkten ihnen einen Teil von sich selbst. Wenn die Jungen Schüler dann am Ziel ankamen, hatten sie ihre Prüfung bestanden und waren im Besitz ihres eigenen, individuellen Zauberstabs. Daraufhin flogen alles zum höchsten der Hügel und feierten ein berauschendes Fest."
Danny sagte lange nichts,  er sah nur voller Reue hinab auf das was von den stattlichen Bäumen übrig geblieben war. Dann meinte er:" Wer würde so etwas tun?"
„Ich schätze, dass die Mischblüter aus Angst vor den Warmblütern die Bäume gefällt und verbrannt haben. Sie wollten sichergehen, dass ihre Feinde ihnen nicht mehr gefährlich werden würden", resigniert liess Alan den Kopf hängen. Er konnte trotz seines Verständnis für die Mischblüter nicht nachvollziehen, wie man so etwas wunderschönes so kaltblütig niederreissen konnte.
„Sie haben dir einen Teil deiner Kindheit genommen. Aber zum Glück lässt sich die Magie in uns nie ganz auslöschen. Sie bleibt immer bestehen, auch wenn wir sie vielleicht nicht immer sehen"
Ab Dannys eindringlicher Stimme hob Alan den Kopf und seine Augen fanden diejenigen Dannys. In deren unendlichen Tiefen schien die gesamte Wahrheit dieser Welt zu liegen.
Danny löste den Blickkontakt und wies hin zu einem kleinen grünen Trieb, der unweit des kahlen Stumpfes aus der Erde ragte. Erstaunt liess Alan seinen Blick schweifen und entdeckte überall weitere der kleinen Hoffnungsschimmer, die sich aus der Asche erhoben. Ein Lächeln schlich sich unwillkürlich auf sein Gesicht. Er sah hin zu Danny der den Trieb ebenfalls liebevoll betrachtete:" Du hast Recht. Die Magie kann man nicht besiegen. Sie kämpft sich zurück."
Er nahm seinen Holzstab wieder an sich und wiegte ihn nachdenklich in den Händen:" Ich hoffe der Baum bereut es nicht, ihn mir gegeben zu haben. Ich bin nicht gerade das was man würdig nennt."
„Du hast überlebt. Das allein zählt", antwortete Danny nüchtern. Dann meinte er:" Wir sollten gehen! Toby läuft uns sonst noch davon."
Als der Blick des zarten Jungen auf Toby fiel, wurde sein Blick sofort wieder verschlossen und abwesend.
Alan nickte. Ein letztes Mal besah er sich die Überreste des einst stolzen Haselnussbaums, bevor er sich erhob.
Andächtig liefen sie durch das zurückgebliebene Schlachtfeld.
Alan dachte über Dannys Worte nach, um sich herum die niedergebrannten Überreste des Waldes. Eines Tages würden die Bäume sich von neuem erheben, egal was ihnen schlimmes widerfahren war.  Er hoffte das Danny, Toby und er das irgendwann ebenfalls konnten.

Bloody Legend - ColdbloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt