Toby flog zum ersten Mal völlig losgelöst von allem, was ihn am Boden hielt.
Eigentlich hätte er es geniessen sollen, doch er fühlte sich seltsam leer.
Immer weiter liess er Danny und Ilan hinter sich und flog in die Richtung, in der seiner Meinung nach die Klippen lagen.
Doch er hatte Mühe voranzukommen. Zuvor war ihm die Luft angenehm und still vorgekommen, jetzt wirbelte sie ihn erbarmungslos herum.
Er konnte sich ohne Dannys Erfahrung nicht in der Luft halten und sackte bald schon ab, hinein in das Meer aus Nebel. Entmutigt liess er sich fallen.
Darunter schien die Welt plötzlich grau und freudlos. Kein Licht drang durch die dicke Nebelschicht.
Toby trudelte auf eine hügelige Wiese zu. Unsanft landetet er im ausgetrockneten Gras und wechselte sogleich seine Gestalt.
Doch er stand nicht auf sondern blieb zusammengekauert liegen. Eine ganze Weile lag er dort, während ihm stumme Tränen über die Wangen flossen.
Toby wäre bestimmt noch ewig in dieser Stellung verharrt, doch ein heiseres krächzen durchdrang auf einmal die Stille.
Erschöpft hob er den Kopf. Der Nebel um ihn herum war so dicht, dass er kaum seine eigene Hand vor Augen erkennen konnte.
Erneut dröhnte das krähen an seine Ohren.
Toby richtete sich auf. Die Feuchtigkeit drang durch seine dünne Kleidung und liess ihn frösteln.
Erst jetzt bemerkte er, wie unheimlich seine Umgebung war. Verunsichert sah er sich um. Die drückende Stille war beängstigend.
Plötzlich flog eine Krähe aus dem Nebel, knapp an seinem Ohr vorbei und krächzte dabei laut.
Toby schnappte nach Luft. Von seinem Ohr floss etwas warmes seinen Hals hinab. Er tastete danach und besah sich anschliessend seine Hand, an der Blut klebte.
Toby blinzelte, er konnte es nicht fassen. Die Krähe hatte zwar ihre übliche Form besessen, war aber gräulich gewesen, genauso wie der Nebel.
Ängstlich drehte sich er sich um seine eigene Achse. Kurze Zeit blieb es ruhig. Dann erhob sich ein Chor aus Krähen, der bedrohlich krächzte. Die Laute schienen von überall her zu kommen.
Noch bevor er nachdenken konnte flog ein rasender Krähenschwarm, direkt aus dem Nebel auf ihn zu. Toby konnte sich mit einem Hechtsprung zu Seite gerade noch vor ihren messerscharfen Krallen retten.
Er sah hinter sich in die Richtung, in der der Schwarm verschwunden war. Wenige Sekunden später ertönte erneut ihr Rufen, diesmal aus ein und derselben Richtung. Sie kamen näher.
Toby rappelte sich panisch auf und rannte davon. Doch die Krähen waren schneller.
Hilflos warf sich Toby zu Boden und schirmte seinen Kopf mit den Händen, vor ihren spitzen Schnäbeln und Krallen ab.
Sie kratzten ihn und stachen erbarmungslos auf ihn ein. Toby schluchzte angstvoll.
Lange liessen sie nicht von ihm ab, bis plötzlich ein verzweifeltes Rufen, ihr Geschrei unterbrach.
Auf einmal waren alle Krähen verschwunden und er war wieder allein.
Toby erhob sich vorsichtig. Er war verwirrt. Er tastete erneut nach seinem Ohr, doch die Wunde war verschwunden. Auch sonst hatten die Krähen ihm keinerlei Verletzungen zugefügt. Es war fast, als hätte es sie nie gegeben.
Die verzweifelte Stimme erhob sich erneut. Sie rief seinen Namen.
Toby's Herz ging auf als er sie vernahm. Er kannte sie nur zu gut.
„Mama? Mama ich bin hier!"
Er folgte freudig ihrer Stimme und fand sie nicht weit entfernt. Sie schien ihre Suche aufgegeben zu haben und vergrub entmutigt ihr Gesicht in den Händen. Ihre Schluchzer zerrissen Toby das Herz.
„Mama, bitte hör auf zu weinen! Ich bin doch hier!"
Er wollte auf sie zugehen, doch sie wandte sich von ihm ab. Abrupt blieb er stehen.
Seine Mutter sprach nun mehr zu sich selbst, als sie sagte:" Wie konntest du mir nur so etwas antun? Du warst doch immer so vernünftig. Ich muss dich komplett falsch eingeschätzt haben. Hast du denn nicht begriffen, dass ich dich nur beschützen wollte. Aber ich hab versagt! Ich bin eine schreckliche Mutter!", plötzlich hatte sie eine Vase in der Hand, die sie mit voller Wucht in seine Richtung warf. Toby konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken und die farblose, graue Vase verschwand im Nebel.
Als seine Mutter sich ihm nun zuwandte, konnte er erstmals in ihr Gesicht blicken. Er erstarrte.
Ihre Augen waren von dunklen Ringen umgeben und ihr gesamtes Gesicht war eingefallen.
Toby fragte sich, wann seine Mutter bloss so alt geworden war. Ihr Haar und ihre Haut trugen diese kranke, gräuliche Farbe, die dem Nebel so ähnlich war.
Ihr gesamtes Aussehen machte Toby furchtbare Angst. Seine Mutter war offenbar schwer krank.
„Mama, bitte ich bin doch hier! Es tut mir alles so leid!" Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Doch sie schien ihn nicht zu sehen.
„Du warst die wichtigste Person in meinem Leben, ohne dich habe ich keinen Grund mehr weiter zu machen" sie hatte nun ein Messer in der Hand.
Toby war geschockt:" Nein, Mama! Bitte tu das nicht!"
Doch es war zu spät. Sie rammte sich das Messer in die Brust und sank zu Boden.
Toby' schrie, als er zu ihrem leblosen Körper rannte und sich daneben kniete. Er wollte sie auf seinen Schoss ziehen, doch als er ihren Körper berührte zerfloss er zwischen seinen Fingern. Verwirrt fiel er zurück und begriff. Das alles entsprach überhaupt nicht der Wirklichkeit. Seine Mutter hatte sich in Wahrheit gar nicht umgebracht. Es war der Nebel der ihm das vorspielte.
Nur langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Er fuhr sich mit dem Ärmel seines Armes über sein verheultes Gesicht und stand auf.
Es war albern von ihm gewesen zu glauben seine Mutter würde auf einmal hier auftauchen. Aber obwohl er nun wusste, dass es bloss Illusionen gewesen waren fühlte er sich nicht besser, dazu waren die Täuschungen zu echt gewesen. Sie hinterliessen eine faulige Angst in seinem Körper, die sich ungehindert ausbreitete.
Hinter ihm erklang ein Lachen, dass ihm bekannt vorkam.
Als er sich umdrehte stand da der Junge mit dem giftgrünen Apfel, den er noch aus Larea kannte, umringt von seiner Bande.
Der Junge mit den widerspenstigen schwarzen Haaren lachte ihn aus:" Schaut euch den an! Steht da und fürchtet sich vor ein bisschen Nebel. Hast du immer noch nicht fliegen gelernt, du Versager?"
Die anderen vielen in sein Lachen mit ein.
Toby versuchte sich einzureden, dass das ganze nicht real war. Doch die Angst die ihn befiel konnte er nicht abschütteln.
Der Junge kam auf langsam auf ihn zu. Er schien Toby viel grösser, als das letzte Mal:" Du bist wahrscheinlich zu dumm und zu unfähig zum fliegen, du Versager. Sollen wir dir nochmal eine Abreibung verpassen, vielleicht klappt's dann besser?"
Toby wollte den Kopf schütteln, doch er war wie erstarrte. Verzweifelt kniff er die Augen zusammen und beschwor sich klar zu denken.
Als er sie wieder öffnete waren der Junge und seine Bande verschwunden.
Toby atmete auf. Doch seine Erleichterung hielt nicht lange an, denn er vernahm eine Stimme die ihm bekannt war, obwohl sie nicht wie üblich, geduldig und klug, sondern gereizt und fahrig durch die Stille schnitt, scharf wie ein Messer in Toby's Herz.
„Toby ist schon wieder abgehauen! Ich versehe wirklich nicht, was du in diesem Jungen siehst, Danny! Er ist stur und dickköpfig und bringt uns immer wieder in Schwierigkeiten. Wir könnten schon längst auf der anderen Seiten sein, wenn er nicht wär."
Toby drehte sich um und befand sich sogleich zwischen den Nebelgestalten von Alan und Danny.
Ihm stockte der Atem. Ihre Erscheinungen waren so echt, dass er völlig machtlos war gegen die ranzige Angst, die sie ihm aufzwang.
In Danny's zartem Gesicht erschien ein boshaftes Lächeln:" Mag sein, dass Toby etwas beschränkt ist in seinem Denken, aber dafür ist er absolut loyal. Er ist zu abhängig von mir, um wirklich ernsthaft an Flucht zu denken. Ich kann mit ihm machen, was ich will. Er ist meine Marionette."
Toby schrie. Er hielt sich die Ohren zu. Er wollte nichts mehr sehen und auch nichts mehr hören. Sein Herz schmerzte so sehr, dass er es sich am liebsten aus der Brust gerissen hätte. Er war so wund und die Qual schien einfach kein Ende nehmen zu wollen.
„Toby! Toby, was tust du da?!"
Seine Stimme schnitt erhob sich wie ein gewaltiges Echo in der Stille. Obwohl er ihn noch nie hatte reden hören, wusste er sofort um wen es sich handelte.
„Papa?", verwundert wandte er sich ihm zu.
Sein Vater thronte etwas erhöht über ihm. Sein Unterkörper verschwand im Nebel. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht blickte er auf ihn hinab.
„Was tust du hier?! Wo ist deine Mutter? Warum bist du nicht bei ihr? Du solltest sie doch beschützen!"
„Ich weiss", Toby schlug reuig seine Augen nieder.
„Was soll das hier überhaupt?! Wem willst du damit etwas beweisen?! Kannst du überhaupt fliegen?"
Toby schüttelte betreten den Kopf. Eine schwerlastende Müdigkeit befiel ihn.
Dies erzürnte seinen Vater nur noch mehr:" Was kannst du eigentlich?! Du bist ein totaler Versager! Ich muss mich schämen einen Sohn wie dich zu haben!"
Die Worte drängten sich langsam in Toby's Inneres. Sie nebelten ihn ein und löschten alle positiven Gedanken, die ihn jemals erfüllt hatten.
Sein Vater verschwand und vor Toby's Füssen erschien ein kleiner Falke.
Der Falke hüpfte verzweifelt herum und versuchte davon zu fliegen, doch er schien verletzt zu sein. Toby empfand das heftige Bedürfnis ihm zu helfen, doch noch ehe er etwas tun konnte flog eine Krähe herbei und stürzte sich krächzend auf den kleinen Vogel.
Toby schrie, sie solle ihn in Ruhe lassen, doch es half nichts. Stattdessen kamen immer mehr Krähen dazu. Sie stachen brutal auf den Falken ein, rissen ihn auseinander. Der kleine Vogel krähte jämmerlich.
Tränen verschleierten Toby's Blick. Er war vollkommen machtlos. Seine Knie gaben nach und er sank kraftlos zu Boden. Er kauerte sich zusammen, so wie er es als Kind oft gemacht hatte. Vielleicht, wenn er einfach den Atem anhalten würde, würden sie alle endlich still sein.Toby hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er wollte einfach nur noch liegen bleiben und nie wieder aufstehen, doch da drängte sich ein Bild in seine Gedanken. Zwei leuchtende blaue Kugeln sahen auf ihn herab. Sie waren genau wie der Himmel, unendlich und unergründlich. In ihnen lag all die Hoffnung dieser Welt. Toby lächelte.
Doch dann tropfte ihm etwas ins Gesicht. Er stutzte.
Konnte es sein, dass der Himmel weinte?
„Toby? Bitte hör mich an. Ich weiss, dass du mich hasst. Aber du darfst das alles nicht glauben! Du bist vielmehr, als das alles. Wir brauchen dich. Bitte hilf uns!", Danny's Stimme hallte glockenhell in seinem Kopf. Ein verschwommenes Bild folgte.
Er sah Ilan, der bedrohlich nah am Abgrund stand und offenbar von einem grossen blonden Mann bedroht wurde.
So schnell, wie sie gekommen waren verschwanden die Bilder wieder und mit ihnen das warme, familiäre Gefühl.
Toby schlug sogleich die Augen auf und richtete sich auf. Er befand sich immer noch an der selben Stelle.
Der Nebel war wie zuvor grau und undurchdringlich. Die Kühnheit, die Toby für eine Sekunde ergriffen hatte schwand erneut. Er konnte sich der Angst einfach nicht entziehen. Am besten wäre es wahrscheinlich, wenn er sich wieder hinlegen würde.
Irgendwo im Nebel erhob sich das altbekannte krächzen.
Toby sah den Krähen gleichgültig entgegen. Aber als der Schwarm angriff, wurde er abgewehrt.
Ein riesiger Adler schlug sie tollkühn in die Flucht.
Toby stand erstaunt da, als der Adler anschliessend vor ihm absetzte und sich in seinen Vater verwandelte.
Diesmal befand er sich auf keiner Erhebung sondern stand ihm wahrhaftig gegenüber und auch seine Züge waren nicht wutentbrannt sondern sahen im freudig entgegen.
„Mein Sohn, ich bin so froh dich zu sehen. Du bist ziemlich gewachsen seit dem letzten Mal. Wie geht es dir?"
Toby war erst sprachlos und betrachtete fasziniert die neblige Gestalt vor sich, die seinem Vater so ähnlich sah. Er saugte jedes noch so kleine Detail auf. Die Art, wie sein Vater dastand, wie er redete. Nur schwer widerstand er dem Bedürfnis sich in seine Arme zu werfen.
„Du bist nicht echt, oder?", brachte er schliesslich hervor.
Sein Vater lächelte sanft:" Das stimmt. Ich bin nicht echt, genau so wie all die anderen Illusionen. Aber wir existieren trotzdem, nämlich hier", er legte seine weissliche Hand auf Toby's Brust.
Toby schnappte nach Luft. Da war es wieder, dieses starke familiäre Gefühl. Es umarmte die Angst und wandelte sie in Wärme.
„Dein Herz schlägt für all diese Gefühle und Menschen in deinem Leben. Das ist mehr wert, als alles andere. Bitte versprich mir, dass du jeden einzelnen Schlag geniesst!"
Toby nickte. Eine angenehme Ruhe breitete sich in ihm aus. Er wusste, dass es nicht sein Vater war der da zu ihm sprach, aber der Glaube, dass er es vielleicht getan hätte wenn er noch am Leben wäre genügte.
Sein Vater trat zufrieden zurück und zwinkerte ihm zu, bevor er sich erneut verwandelte. Der prachtvolle Adler umkreiste ihn noch kurz und stiess einen aufmunternden Schrei aus, bevor er im Nebel verschwand.
Toby blickte ihm hinterher, während seine Gedanken abdrifteten, zu einem kleinen blauäugigen Jungen, der ihm vermutlich gerade das Leben gerettet hatte. Er atmete tief durch und streckte seine Arme aus, um erneut zurückzukehren.
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Bloody Legend - Coldblood
FantasyDanny, der intelligente Junge mit den Eisblauen Augen. Toby, der Junge der fliegen könnte, wenn er wollte. Ilan, der mit jedem Pinselstrich vergangenes verarbeitet. Ihre Begegnung wird alles verändern. Der neunjährige Danny wächst abgeschottet von d...