Prolog 2. Kapitel

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Im oberen Stock gab es weder Fenster noch Möbel. Bloß ein paar stinkende, alte Matratzen, die für sie als Schlafplatz herhielten und ein Haufen Stroh. Die Decke war so niedrig, dass Ben kaum aufrecht stehen konnte.
Er hielt sich so wenig wie möglich hier oben in dem engen, dunklen Raum, ohne jegliches Tageslicht auf. Er war lieber draußen unter freiem Himmel. An der hinteren Wand befand sich eine Tür, die schon halb aus den Angeln hing. Er öffnete sie.
Dahinter erwartete ihn eine Menge Staub der ihm in der Nase kitzelte und seine Augen reizte, doch daran war Ben längst gewöhnt. Ballen von Heu und Stroh stapelten überall in dem grossen Raum. Auch ein uralter Traktor und einige andere verrosteten Gerätschaften standen herum. Glocken Gebimmel drang von unten herauf. Durch die Spalten der abgenutzten Dielenbretter sah man auf die wenigen Kühe herab, die das Heu, welches Ben ihnen gerade gefüttert hatte, aus ihren Raufen rupften.
Ober ihm öffnete sich der Raum bis zum Dachgewölbe hin. Sicheren Schrittes kletterte Ben auf das Dach des Traktors und von dort weiter auf einen der Dachbalken. Er hangelte sich problemlos bis ganz unters Dach. Dort, geschützt vor jeglichen gebieterischen Blicken, hatte er einen Rückzugsort für Danny geschaffen. Er wollte dem Jungen, dem es verboten war auch nur einen Fuss nach draussen zu setzten, wenigstens ein wenig Freiheit schenken. Somit hatte er eine mächtige Plane zwischen die Dachbalken gespannt und so gemütlich ausgestattet, wie möglich. Die riesige Liegewiese lag unweit eines grossen Lochs in der Decke, von dem er erst vorgehabt hatte es zu stopfen. Doch Danny hatte ihn sogleich davon abgehalten. Der Junge liebte es neben dem Loch zu liegen und das Sonnenlicht aufzusaugen genau so wie einige der Regentropfen abzukriegen. Weder der eisige Wind noch, grell zuckende Blitze hatten ihm je etwas ausgemacht. Auch heute sass der neunjährige dick in eine Decken gewickelt da und starrte gebannt zu den heftig tobenden Naturgewalten:" Ein Gewitter", meinte er fasziniert, ohne den Blick abzuwenden.
Ben nickte und liess sich auf die Plane fallen:"Hat gerade vorhin angefangen. Ist ganz schön heftig".
Überall im Dach waren Löcher, doch über ihrer improvisierten Einrichtung, war es zum Glück dicht.
"Ich sehe es. Du bist ganz nass", Danny sah zu ihm und lächelte das kleine, schüchterne Lächeln, welches so typisch für ihn war.
Ben streckte ihm die Zunge raus. Er zog sein
Hemd aus das, dass ihm kalt auf der Haut klebte. Dann nahm er sich eine der weiteren Decken:" Mach mal Platz", er legte sich hin und breitete die Decke über sie beide aus;" Hast du wieder eine neue Geschichte für mich?"
Danny nickte. Er legte den Kopf auf Bens Arm und begann zu erzählen. Die Geschichte fing immer gleich an, spann sich aber dann aber weiter. Er war darin ein Vogel und flog hinfort in ein Land voller Geheimnisse und Abenteuer. Bevölkert von sonderbaren Geschöpfen mit aussergewöhnlichen Eigenschaften und spezifischen Augenfarben. Sie lebten in romantischen Städten, herrschten in mächtigen Burgen und arbeiteten in hochaufragenden Häusern. Der Raubvogel sang mit Meerjungfrauen, tanzte mit Greifen, jagte mit Werwölfen, schwebte über Zentauren und bemitleidete eingesperrte Drachen. Ben hatte noch nie etwas von all diesen Wesen gehört, doch mithelfe Dannys lebensnaher Beschreibung wurden sie in seinem Kopf lebendig.
Der Junge spann sich seine eigenen Geschichten seit er Denken konnte. Ben vermutete, dass es seine einzige Fluchtmöglichkeit aus seinem tristen Alltag war. Er staunte oft über Dannys unbestreitbare Fantasie.
Er schloss die Augen. Er liebte es ihm zuzuhören. Er konnte dabei seine eigenen Sorgen vergessen. Seit siebzehn Jahren sass er hier fest, an Menschen gebunden denen er nichts bedeutete. Dazu verdammt ein Leben lang für sie zu schuften und nie mehr von der Welt zu sehen, als die paar zu bestellenden Wiesen.
Wäre er allein gewesen, wäre er wohl schon längst abgehauen. Aber er konnte Christine und Danny nicht im Stich lassen. Er wünschte sich so sehr ihnen ein besseres Leben bieten zu können als dieses, doch wohin sollte er mit ihnen gehen?
Als die Geschichte endete lag er noch eine Weile da und hielt Danny im Arm. Er spürte jeden seiner Knochen, so dürr war der Junge. Von der Seite schaute er Danny an. Seine Haut war blass und dünn wie Papier. Sein blondes Haar beinahe so hell wie seine Haut. Ein schwaches, kränkliches Kind. Im totalen Gegensatz dazu standen seine Augen. Diese stachen aus seinem Gesicht hervor, wie zwei eisig glühende Flammen. Flammen pulsierenden Lebens.
Schließlich raffte er sich dazu auf, Danny durchs hellblonde Haar zu wuscheln und zu sagen:" Schöne Geschichte du Erzähler. Aber jetzt lass uns etwas essen gehen. Du hast doch bestimmt Hunger, oder?"
Danny nickte und kletterte flink voran die Balken hinunter. Christine hätte sich jetzt sicher wieder Sorgen gemacht, dass er runterfallen könnte. Sie machte sich immer Sorgen um den schwächelnden Danny. Doch dieser war vorsichtig und besonnen. Christine brauchte einfach jemanden den sie bemuttern konnte.
Sie wusste nichts von ihrem Versteck. Das war wahrscheinlich auch besser so. Christine war nicht dafür gemacht sich Befehlen zu widersetzten, dafür fehlte ihr die Willensstärke.
Als sie wieder durch die Tür traten, die in ihr Schlafzimmer führte, hörte Ben es unten krachen und scheppern, als ob jemand dabei wäre den gesamten unteren Stock zu verwüsten. Er stutzte. Was hatte das zu bedeuten? Er beschloss, erst einmal selbst nachzusehen.
"Warte hier", wies er Danny an und stieg dann. misstrauisch die Leiter hinab, auf alles gefasst.

Bloody Legend - ColdbloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt