48. Kapitel

65 3 0
                                    

Toby stand allein am Fuss der Klippen. Er starrte aufs Meer hinaus. Die untergehende Sonne liess die Wasseroberfläche, wie pures Gold erscheinen. Das helle Leuchten trübte seinen Blick. Unter ihm schlug die Gischt mit voller Wucht gegen die Felsen.
Er schniefte. Mit zitternden Fingern griff er in seiner Tasche nach dem dünnen Blatt Papier. Vorsichtig schirmte er das Foto mit einer Hand vor dem Licht ab.
Es zeigte seinen gross gewachsenen Vater, mit seiner langen Nase und den dunkelblonden Haaren. Neben ihm ein kleinerer dunkelhaariger Mann mit Brille auf der Nase. Die beiden hatten sich die Arme um die Schultern gelegt und lachten vergnügt in die Kamera.
Toby traten die Tränen in die Augen. In Momenten wie diesen war die Sehnsucht nach seinem Vater überwältigend.
Er fühlte sich hier so fehl am Platz. Weder Alan noch Danny schien viel daran gelegen, ihn bei sich zu haben. Das schlimmste war, dass er es ihnen nicht mal verübeln konnte. Er war schlicht überflüssig.
Er fragte sich nicht zum ersten Mal, was sein Vater wohl an seiner Stelle tun würde. Er stellte sich vor, dass er ihm fürsorglich den Arm um die Schultern legen würde und ihm einen väterlichen Rat gebe. Sie würden die Situation gemeinsam meistern, Vater und Sohn.
Traurig blickte Toby auf.
Wäre sein Vater wohl stolz auf das was sein Sohn bisher geschafft hatte? Oder doch eher enttäuscht? Hätte er ihn gelehrt seine Gestaltwandlerfähigkeit zu kontrollieren? Hätte er ihm geholfen zu fliegen? Oder ihm wie seine Mutter geraten, sich davon zu distanzieren?
Während er seinen Gedanken nachging Durchschnitt plötzlich eine Rufen die Ruhe:"Toby?!"
Er zuckte zusammen als er Alans Stimme hinter sich vernahm. Dabei liess er versehentlich das Foto los. Dieses segelte ihm aus der Hand und der laue Wind trug es sogleich fort, aufs offene Meer hinaus.
Toby wollte schreien, doch kein Laut drang aus seiner Kehle. Eine unbändige Trauer wütete in seinem Bauch. Doch er schluckte sie herunter und starrte bloss dem Foto hinterher das vom Wind davon getragen wurde.
„Toby?", Alan stand nun direkt hinter ihm.
Hastig bemühte er sich eine normale Stimmlage zustande zu bringen.
„Was ist?"
„Ich wollte dir nur mitteilen, dass das Abendessen fertig ist."
„Alles klar. Ich komme gleich"
Toby atmete auf als sich Alan abwandte.

Nachdem er sich etwas gesammelt hatte, trat er an das Vorzelt ihrer behelfsmässigen Unterkunft. Alan sass vor einem dampfenden Topf und schrieb in ein kleines Notizbuch. Toby hatte ihn nun schon öfter dabei beobachtet, wie er etwas in das Büchlein eintrug.
Als er näher trat klappte Alan das Buch flink zu und stand lächelnd auf.
„Da bist du ja. Ich habe Suppe gekocht", schwungvoll schöpfte er ihm davon auf einen Teller.
Beim Geruch der dampfenden Brühe fiel Toby erstmals auf wie hungrig er war.
„Wir hatten leider nicht mehr viele Vorräte, aber ich hoffe sie schmeckt trotzdem", Alan schöpfte auch sich selbst und sie setzten sich.
„Und Danny?", der blonde Junge war nirgends zu sehen.
„Der schläft."
„Schon wieder?!"
Danny verhielt sich zunehmend merkwürdig. Anfangs hatte er überhaupt nicht mehr einschlafen wollen und war morgens immer zu müde gewesen zum aufstehen. Seit kurzem aber, war er der allererste der ins Bett ging und stand dann mit der Sonne wieder auf. Er ass fast nichts mehr und schien auch keinen Hunger zu haben. Die Tagesstunden verbrachte er jeweils damit abwesend herumzusitzen. Seit längerem, hatte er mit Toby kein Wort mehr geredet.
„Es tut ihm gut wieder mehr zu schlafen. Ich bin froh, wenn er bald wieder bei Kräften ist. Es wird noch ein hartes Stück bis hinter die Hügel."
Toby horchte auf:" Du möchtest also weiterziehen?"
Alan nickte:" So bald wie möglich."
„Und wohin? Über die Hügel?!" Toby dachte an die steile, unbezwingbar scheinende Hügelkette die ihnen den Weg versperrte.
Alan lächelte" Keine Sorge. Der Weg den ich gehen will ist vollkommen sicher."
Toby zog die Augenbrauen hoch. Alans Auffassung von sicher, war ihm nur allzu bekannt.
Schweigend assen sie weiter.
Als Toby fertig war und sich erneut zum gehen wandte, hielt Alan ihn nach kurzem zögern zurück.
„Warte bitte noch, Toby. Ich habe etwas für dich", er stand auf, griff nach dem Notizbuch und zog etwas hervor, das zwischen den Seiten eingeklemmt war. Verhalten hielt er es ihm hin:" Ich wollte schon lange mit dir darüber reden. Aber ich hatte Angst, wie du reagieren würdest."
Mit offenem Mund starrte Toby auf das, was Alan ihm entgegen streckte. Es war das Foto von seinem Vater und dem Mann mit der Brille. Dasselbe Bild, welches er vor wenigen Minuten noch für verloren glaubte.
„Woher hast du das?", misstrauisch nahm er es entgegen.
„Aus dem Zimmer deines Vaters."
„ Meines Vaters? Woher kennst du meinen Vater?"
Alan lächelte:" Er war mein Pate. Er und mein Vater waren beste Freunde. Siehst du?", Alan zeigte auf den etwas kleineren, festeren Mann mit Brille der neben seinem Vater stand.
„Das ist dein Vater?", Toby konnte es nicht fassen. Erstmals fiel ihm die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Die Schwarzen Haare, das dümmlich aussehende Lächeln, die goldgesprenkelten Augen, die Brille, beinahe alles stimmte.
Alan nickte:" Dein Vater ist oft bei uns untergetaucht. Er hatte im Haus sein eigenes Zimmer."
Toby erinnerte sich unwillkürlich an den Raum in dem eine ganze Wand mit dem Abbild der Klippe und eines Adlers bemalt war. Die Gewissheit, dass er tatsächlich im Zimmer seines Vaters gewesen war, liess seine Beine ganz zittrig werden. Fieberhaft versuchte er sich an so viele Details, wie möglich zu erinnern und daraus Informationen von seinem Vater zu ziehen. Erst langsam drangen Alans Worte vollständig in sein Gehirn:" Du hast gesagt er musste untertauchen? Warum?"
„Dein und mein Vater waren Missionäre der Friedensbewegung, die den Krieg zwischen den Rassen verhindern wollte. Sie versuchten lange Zeit zwischen den Rassen zu vermitteln. Später spionierte dein Vater auf seinen Flügen die verschiedenen Lager aus und lieferte wichtige Informationen. Durch ihn konnte der Angriff auf die Warmblüter lange heraus gezögert werden. Dadurch geriet er jedoch ins Visier der Vollblüter."
„Das heisst er stand auf der Seite der Warmblüter."
„Eigentlich stand er vielmehr auf der Seite der Gegner von Gewalt und Krieg."
Toby konnte es nicht fassen. Nach dem was ihm seine Mutter immer erzählt hatte, war sein Vater ein etwas spiessiger, zerstreuter Mann gewesen, der seine Arbeit liebte. Doch Alan vermittelte ihm ein völlig neues Bild:" Ich dachte immer er wäre Kartograf gewesen."
„Das war er auch, mit Leib und Seele. Ihm lag nichts mehr am Herzen, als das wunderschöne Land zu erhalten, dass ihm so viel bedeutete. Ihm war klar, dass der Krieg es zerstören würde."
Toby kam sich plötzlich ganz klein und unnütz vor. Er schämte sich. Das, was sein Vater da gemacht hatte, war mutig und stark gewesen. Dagegen war sein Sohn ein kompletter Feigling der noch nicht einmal fliegen konnte. Beschämt liess er den Kopf hängen:" Das heisst mein Vater war ein Held."
Zu seiner Verwunderung lachte Alan:" Meine Mutter hat immer erzählt, dass sich die beiden anfangs für ganz wichtig und heldenhaft gehalten haben. Für sie war das alles mehr ein Spiel. Das habe sich nicht mal gross geändert nachdem sie eine Familie gründeten. Als meine Mutter das erste mal schwanger wurde stieg sie bei der Bewegung, die „Auge des Friedens" hiess aus und las meinem Vater ordentlich die Leviten, was er nun für eine Verantwortung zu tragen hätte. Damit war dieser dann erstmal völlig überfordert."
Toby musste schmunzeln als er sich vorstellte, wie kindisch und unverantwortlich sich die beiden Männer verhalten hatten.
„Und mein Vater? War er auch...überfordert?", fragte er vorsichtig.
Alan lächelte:" Nein, Toby. Dein Vater war begeistert. Er hat von nichts anderem mehr geredet, als von seinem Sohn. Mein Vater war für mich der beste Vater, aber dein Vater war der Meister aller Väter. Niemand konnte so mit Kindern umgehen, wie er. Meine Mutter sagte immer, das läge daran, dass er selber noch ein richtiges Kind wäre", Alan sah ihm in die Augen:" Dein Vater hat dich heiss und innig geliebt, Toby. Für ihn warst du das grösste Geschenk!"
Eine tiefgreifende Wärme breitete sich in Toby aus. Ein ungeahnter Frieden legte sich über seine Seele. Sein Augen begannen unvermutet zu leuchten und er richtete sich ein ganzes Stück auf.
„Auge des Friedens! Gibt es diesen Bund immer noch?", fragte er, nun doch etwas neugierig geworden.
„Nein, schon lange nicht mehr. Er zerfiel endgültig in der Nacht des goldenen Feuers", Alan setzte sich wieder hin und Toby tat es ihm gleich.
Er nickte nachdenklich. Dann wurde ihm plötzlich bewusst, was das bedeuten musste. Da Alan seinen Vater gekannt hatte, wusste er sicher auch genauestens über dessen Fähigkeiten Bescheid. Plötzlich kam er sich töricht vor, als er daran dachte, wie verbissen er versucht hatte sein Geheimnis vor Alan zu vertuschen. Er sah auf und blickte in Augen, die ihm seinerseits geduldig und freundlich entgegensahen. Er atmete tief durch.
„Mein Vater was...wie dachte er über..", er brach ratlos ab, die Worte wollten ihm nicht über die Lippen kommen. Doch Alan verstand ihn auch so.
„ Über eure Gestaldwandlerfähigkeiten? Oh, er war ganz begeistert als sich herausstellte, dass du auch ein Vogel werden würdest. Er hat immer am liebsten die Geschichte erzählt, wie deine Mutter einmal beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, nachdem sie statt ihrem Sohn ein Vogeljunges im Kinderbett vorgefundenen hat."
Sie lachten beide bei der Vorstellung, doch dann wurde Toby auf einmal traurig.
„Meine Mutter hat diese andere Seite an mir immer verabscheut", sagte er leise. Er erwartete dass Alan ihm widersprach. Doch was der aufrichtig aussehend Mann, dessen Brille langsam beschlug antwortete, überraschte ihn.
„Deine Mutter hatte gewiss auch ihre Gründe das zu tun. Du musst versuchen ihre Angst zu verstehen. Sie ist in einer Familie aufgewachsen, die jegliche Art von Magie verabscheut. Doch die Liebe von ihr und deinem Vater, war viel stärker. Er war alles für sie und umgekehrt. Nachdem du geboren warst schien ihr Glück perfekt, doch die Angst ist geblieben. Die Angst davor, dass der Mensch den sie über alles liebt, seine Flügel ausspannt und einfach davonfliegt. Die Angst vor etwas, dass sie nicht kontrollieren konnte. Deine Mutter wollte, dass dein Vater beim ‚Auge des Friedens' ausstieg, doch er hat es nicht getan. Denkst du nicht, dass deine Mutter alles tun würde um das Letzte was ihr im Leben geblieben ist, davon abzuhalten dasselbe zu tun?"
Toby sagte lange Zeit nichts. Dann hob er den Blick:"Warum hat mein Vater nicht auf sie gehört?"
Alan lächelte:" Das haben sich damals viele gefragt. Vor allem diejenigen, die die den Bund ihrerseits verliessen, als es brenzlig wurde. Aber nachdem ich deinen Vater einmal habe fliegen sehen, war die Sache für mich vollkommen klar."
„Was war klar?", Toby verstand nicht, was ihm Alan der gerade konzentriert dabei war eine Haarsträhne, die sich in einem Bügel seiner Brille verheddert hatte, zu befreien, zu sagen versuchte.
„Na ja, es ist für einen Aussenstehenden vielleicht etwas schwierig zu verstehen", Alan schaffte es endlich seine Haar von der Brille zu trennen und setzte sie sich wieder auf die Nase:" Dein Vater hat das fliegen und alles was dazu gehörte geliebt, genauso wie mein Vater die Bibliothek und ihre Bücher liebte, oder deine Mutter die Naturheilkunde. Du hast du dieses Gefühl beim fliegen, sicher auch schon einmal erlebt?"
Toby's Blick verdunkelte sich augenblicklich. Er verschränkte abwehrend die Hände vor der Brust:" Nein, das hab ich nicht und ich denke das wird auch nie geschehen."
„Wieso das denn?", Alan schien von seiner heftigen Reaktion überrascht:" Was ist los, Toby?"
Toby bis sich auf die Lippen und schwieg. Er war sich nicht sicher, ob er Alan die Wahrheit erzählen sollte, oder nicht. Alan unterdessen wartete geduldig ab, bis er etwas sagen würde. Toby seufzte.
„Ich fühle nie irgendwas, wenn ich fliege. Von dem Moment an in dem ich mich verwandle habe ich keinerlei Kontrolle mehr, über das was ich tue. Es ist als würde ich für kurze Zeit in einen Tiefschlaf fallen und erst wieder aufwachen, wenn ich wieder ein Mensch bin."
Alan rieb sich das Kinn, auf dem bereits wieder Bartstoppeln wuchsen:" Du bekommst gar nichts mit, während du fliegst?"
„Nein", niedergeschlagen senkte Toby den Blick.
„Das ist zwar ungewöhnlich, aber nichts, was man nicht beheben kann. Viele Gestaltwandler haben anfangs Schwierigkeiten mit ihrer Transformation", Alan blickte ihn beruhigend an. Toby hob den Kopf.
„Du meinst also, dass sich das ändern lässt?"
„Mit ein bisschen Training und Willensstärke sollte das in den Griff zu kriegen sein, ja."
Toby wusste nicht was er sagen sollte. Er sah hinab auf das Bild in seinen Händen, von dem sein Vater ihm breit grinsend entgegen blickte und überlegte:" Ich möchte es endlich auch kontrollieren können. Ich will lernen zu fliegen!", meinte er schliesslich entschieden.
Er blickte auf und sah in Alans Augen, die wie ihm schien, jedes Mal von mehr goldenen Linien durchzogen waren:" Hilfst du mir dabei?"
Alan lächelte und seine Augen blitzten:" Es wird mir ein Vergnügen sein."

Bloody Legend - ColdbloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt