43. Kapitel

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Toby griff nach den Riemen seines Rucksacks, der schwer auf seinen Schultern lastete. Keuchend blieb er einen Moment sehen und schnappte nach Luft. Das Geröll unter seinen Füssen, dass von einem roten Sein herrührte, erschwerte den Aufstieg zusätzlich. Ständig rutschten seine Füsse ab und fanden nur schwer halt. Er schwitzte unter dem erbarmungslosen Licht der Sonne.
Am frühen Morgen waren sie aufgebrochen und bahnten sich seit dem unermüdlich einen Weg mitten durch die sandige Wüste. Doch sie liefen dabei nicht direkt zwischen den Dünen, sondern über eine kahle, hohe, von rotem Gestein gezeichnete Hügelkette, die man knapp als Berge klassifizieren konnte. Unter ihnen auf beiden Seiten breitete sich die unendliche scheinende Wüste aus. Toby war überaus froh darüber, nicht mehr durch den siedend heissen Sand stapfen zu müssen, da ihm die schlechten Erfahrungen die er dort gemacht hatte noch in den Knochen steckten.
Er strich sich über die verwundete Stelle an seiner Wange. Der Schnitt war von Alan verarztet worden und erinnerte ihn beständig daran, was für ein Verräter er war.
Auf seiner linken Seite konnte er in weiter ferne einen blauen Streifen erkennen. Es war das Meer, das sich bis zum Horizont auszubreiten schien. Alan hatte ihnen erklärt die Wüste selbst läge
abgeschnitten auf einer Halbinsel und die Erhebung auf der sie sich befanden, führe mitten hindurch.
Toby konnte nicht wirklich nachvollziehen, weshalb sie diesen beschwerlichen Umweg auf sich nahmen, statt weiter ins Landesinnere vorzudringen. So hätten sie die Wüste schneller hinter sich bringen können und Larea, mit seinen ertragreichen Feldern und dem milden Klima hätte sie empfangen. Doch laut Alan war es für sie immer noch zu gefährlich, sich in das Herrschaftsgebiet von Larea zu wagen. Obwohl es Toby schleierhaft war, weshalb man sie immer noch weiter verfolgen sollte. Konnte es den Mischblütern aus Larea nicht egal sein, wenn sie auf die andere Seite und somit in den sicheren Tod liefen?
Doch er hatte nicht gewagt nachzufragen. Dazu war sein schlechtes Gewissen zu gross. Auch wenn Alan ihm keinen Vorwurf zu machen schien und ihn, während er seine Verletzung behandelte freundliche anlächelte. Dennoch fühlte sich Toby nicht befugt, dass Wort an ihn zu richten.
Somit trottete er seit sie aufgebrochen waren, nur mit gesenktem Kopf hinter Danny und Alan her.
Der zarte Danny hatte schnell die Führung übernommen. Sein heller, blonder Haarschopf zeichnete sich in einiger Entfernung vor ihrer Truppe ab. Unaufhaltsam stürmte er mit beachtlichem Tempo den Steilhang hinauf. Es schien fast, als bemühe er sich um einen möglichst grossen Abstand zu seinen Kameraden.
Dies war es auch, was Toby am meisten schmerzte. Danny hatte seit dem Vorfall kein einziges Wort mehr mit ihm geredet und ihn nicht mal mehr eines Blickes gewürdigt. Danny musste sehr wütend auf ihn sein und Toby konnte dies leider nur allzu gut verstehen. Wiedermal hatte er bewiesen, dass auf ihn keinerlei Verlass war und er immer bloss an sich selbst dachte.
„Alles in Ordnung?"
Toby zuckte zusammen. Ihm war nicht aufgefallen, dass Alan zu ihm zurückgekommen war. Mühsam richtete er sich auf und bemühte sich um einen gefassten Ausdruck.
„Klar. Alles bestens"er lächelte schwach.
Alan lächelte aufmunternd zurück:" Hast du ein Glück. Mir tut jeder Muskel weh!", genüsslich streckte er sich und gähnte.
Während Alan neben ihm seine Dehnübungen vollführte, schluckte Toby den Kloss in seinem Hals hinunter, nahm all seinen Mut zusammen und sagte:" Tut mir leid."
Es war nicht mehr als ein leises flüstern, doch Alan hob sofort den Kopf:" Was denn?", fragte er neugierig.
„Das ich so grundlos wütend auf euch war und einfach weggelaufen bin, wie ein trotziges Kleinkind", Toby blickte reumütig zu Boden.
Alan lachte bloss:" Trotziges Kleinkind trifft es ziemlich gut. Aber mach dir nichts draus. Die Hauptsache ist, dass du wohlbehalten wieder zurückgekehrt bist."
„Ohne Danny wäre ich das wohl nicht" Toby sah auf:" Er hat sich zwischen mich und diesen Geist aus Sand gestellt. Aber anstatt ihn zu töten, sind die Sandmänner alle verschwunden."
Alan blickte nachdenklich hinunter auf die von Dünen gezeichnete Sandebene:" Das was du als Sandmänner bezeichnest waren in Wirklichkeit Piraten. Männer und Frauen ohne jegliche besondere Fähigkeiten, die sich nicht unter die Herrschaft der Warmblüter stellen wollten. Sie lebten nach ihren eigenen Regeln und plünderten mithilfe ihrer Schiffe entlang der Küste. Dies hier war ihr Land, ihre Heimat", Alans Stimme schien von weit her zu kommen. Eine merkwürdige Melancholie sprach aus ihr. Toby erinnerte sich an die Bilder auf den Fenstern des Karussells. Auf einmal begriff er ihre Bedeutung.
Alan sprach mit gepresster Stimme weiter:" Die Warmblüter duldeten dieses Verhalten nur solange die Piraten ihnen jeweils etwas von ihrer Beute abgaben. Meist war dies mehr als ihnen Zustand. Es gab deshalb immer wieder Streit. Als de Zauberer den Piraten das Karussell zur Verfügung stellten, schien ihre Wut zuerst besänftigt. Doch bald stellte sich heraus, dass es nur ein weiterer Versuch der Warmblüter war, die Piraten auszunutzen. Der Groll der Piraten gegen die Warmblüter wuchs zusätzlich. Als sie eines Nachts erfolgreich ganz Larea ausplünderten, dachten sie einen Erfolg feiern zu können."
Alan bezeichnete eine weit ausholende Geste mit seinem Arm. Toby lauschte gebannt:" Das alles hier, war einmal eine wunderschöne Küstenstadt namens Isslar. Sie gehörte allein den Piraten. Nach dem Überfall gab es einen Prozess, den die Piraten natürlich verloren. Die Wut der Warmblüter war so gross, dass sie die gesamte Stadt mit Unmengen von Sand zudeckten, ohne Rücksicht auf die Menschen darin. Sie verfluchten die Piraten und banden ihren Geist für ewig an diese Wüste. Seitdem töten die Geister aus Sand jeden Warmblüter und Mischblüter der einen Fuss in ihr Gebiet setzt. Bei Kaltblütern jedoch machen sie eine Ausnahme, denn diese hatten als einzige versucht ihnen zu helfen und sich während dem Prozess stark für sie eingesetzt."
Geschockt sah Toby ihn an. Er konnte nicht glauben wie jemand so grausam sein konnte.
„Hatten diese Piraten auch Kinder?", fragte er als er seine Stimme wiedergefunden hatte.
„Natürlich! Familie war den Piraten immer äusserst wichtig. In Isslar lebten sehr viele Kinder, Alte und Kranke. Doch das hat die Warmblüter keineswegs von ihrem Vorhaben abgebracht„, Alan zuckte mit den Schultern.
Toby schluckte:" Das wusste ich nicht. Ich dachte immer die Piraten wären gefährlich und unberechenbar gewesen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass fast alle Warmblüter bei dem Feuer, welches die Vollblüter legten verbrannt wurden. Ich dachte sie wären bloss die Opfer gewesen und hatte früher immer Mitleid mit ihnen, aber jetzt bin ich froh darüber."
Er bemerkte nicht wie Alan neben ihm leicht zusammenzuckte:" Du meinst also sie hätten es verdient?"
„Sie waren grausam und hochnäsig, natürlich haben sie es verdient"
„Und die Überlebenden? Ihrer Kinder die in dieser Nacht alles verloren haben? Was ist mit ihnen?"
„Sie hätten auch sterben sollen, das wäre nur fair gewesen."
„Fair", wiederholte Alan leise. Er schien verletzt.
Toby wurde augenblicklich der Grund dafür bewusst. Alan hatte ihm das alles erzählt, um ihm auf zu zeigen, wie ähnlich er selbst den Warmblütern war. Auch Toby hatte sich hochnäsig und eitel verhalten. Er hatte sich seit Beginn gegen diese Reise gesträubt, war nicht bereit zu kooperieren. Alan wollte ihm damit eine Lektion erteilen.
Toby seufzte und blickte zu Danny, der nur noch ein Punkt in der Ferne war:" Meinst du Danny wird mir das je verzeihen können?"
„Ich denke nicht nicht, dass es etwas zu verzeihen gibt, Toby. Danny nimmt es dir nicht übel, dass du weggelaufen bist. Er ist bloss etwas durcheinander und erschöpft, weil er vorletzte Nacht so heftiges Fieber hatte."
Toby's Meinung nach machte Danny keineswegs den Eindruck durcheinander oder gar erschöpft zu sein, im Gegenteil:" Was ist letzte Nacht passiert, Alan? Was war mit Danny los? Ich möchte ihm wirklich helfen aber ich weiss nicht wie. Etwas stimmt doch nicht mit ihm. Manchmal macht er mir einfach nur Angst."die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus. Er hatte bis jetzt noch nie offen zugegeben, was er wirklich über Danny dachte.
Auf einmal verschloss sich Alans Blick . Er richtete sich zu seiner vollen Grösse auf:" Mit Danny ist alles in Ordnung", er klang wütend. Toby wich verunsichert vor ihm zurück.
Alan schulterte erneut seinen Rucksack und wandte sich ab. Als er schon einige Schritte entfernt war, wandte er sich nochmal um:" Wenn du wirklich so viel Reue empfindest, dann zeig das Danny. Sei jetzt für ihn da! Denn wen er jetzt am meisten braucht, ist sein Freund."
Toby nickte voller Reue. Ihm war es klar, dass es falsch war seinen Freund ihn frage zu stellen.

Als sie in dieser Nacht ihr Lager aufschlugen schielte Toby immer wieder unsicher zu Danny hinüber. Obwohl tagsüber so eine erdrückende Hitze geherrscht hatte wurde es jetzt, da die Sonne untergegangen war immer kälter. Da es hier nirgends Feuerholz gab, war es ihnen nicht möglich ein Feuer zu entfachen. So sassen sie alle in ihren wärmsten Kleidern beisammen. Danny knabberte geistesabwesend an seinem Apfel. Obwohl er hier bei ihnen hockte schien er doch meilenweit entfernt zu sein. Das fiel anscheinend auch Alan auf. Als er ihn etwas fragte zuckte Danny bloss gleichgültig mit den Schultern. Nachdem er fertig gegessen hatte stand der Junge ohne ein Wort auf und verkroch sich in seinen Schlafsack.
Hilfesuchend blickte Toby zu Alan, doch der sah dem Jungen seinerseits nur traurig hinterher.

Toby war froh als er in seinem Schlafsack lag und die wohlige Schlaftrunkenheit seine Sorgen erstickte. Er schlief tief, bis ihn ein leichtes Beben weckte. Als er benommen die Augen öffnete erkannte er, dass das Beben von anhaltenden Schritten stammte, die durch den steinigen Boden an sein Ohr drangen. Verwirrt erhob er sich. In der Dunkelheit erkannte er zwei Gestalten. Die kleinere Gestalt stand etwas weiter weg während sich die grössere etwas bedeckt dahinter hielt. Er seufzte. Am liebsten hätte er sich die Decke über die Ohren gezogen und versucht weiter zu schlafen. Doch er hatte ja versprochen ein wahrer Freund für Danny zu sein. Somit gesellte er sich widerwillig neben Alan. Dieser wies ihn mit einem Fingerzeig auf Danny an, leise zu sein.
„Was ist los?"flüsterte Toby daraufhin.
„Danny schlafwandelt."
Toby sah zu dem kleinen Jungen der bedenklich nahe am Rand des Hochplateaus stand, auf dem sie ihr Lager errichtet hatten. Der klaffende Abgrund eröffnete sich bedrohlich unter ihm.
„Und jetzt? Was sollen wir tun?"
„Nichts."
„Nichts?! Was wenn er da runterfällt!?"
Er sah Alan von der Seite her an, dessen Augen Danny fixierten. Eine unverhohlene Neugier lag in seinem Blick.
Währenddessen bewegte sich Danny stückweise weiter auf den Abgrund zu.
„Alan?", fragte Toby panisch, als Danny nur noch einen einzigen Schritt vor dem sicheren Tod entfernt war. Da blieb der Junge plötzlich stehen. Er breitete  die Arme aus. So stand er da in der leichten Brise die herrschte, die Wüste unter ihm und der sternenklare Himmel über ihm. Dann beugte  er sich vor, um sich fallen zu lassen.
Alan war bei ihm noch ehe Toby reagieren konnte. Er umschloss den zarten Körper des Jungen mit beiden Händen und hielt ihn fest. Danny legte sein ganzes Gewicht in Alans Arme, doch dessen Griff blieb fest.Schliesslich erschlaffte der zarte Körper Dannys in Alans Armen.
Alan hob den feingliedrigen Körper behutsam hoch und trug ihn zu seinem Schlafsack.
Während er ihn fürsorglich zudeckte , trat Toby dazu:" Was war das?", fragte er vorsichtig.
„Danny hat etwas geträumt und deswegen geschlafwandelt."
Toby sah auf den Jungen hinunter dessen Körper nun vollkommen unbewegt dalag. Doch Toby erinnerte sich an den Abend im Karussell, an dem Danny diese Stimmen gehört hatte.
„Bist du sicher, dass das alles war."
„Natürlich.", antwortete Alan zwar überzeugend, jedoch etwas verzögert.
Toby wartete ab, ob er dem noch etwas hinzufügen würde, doch Alan meinte bloss:" Lass uns wieder schlafen gehen, morgen wird ein anstrengender Tag."
Toby blickte noch einmal in das engelsgleiche Gesicht aus dem pure Unschuld sprach, bevor er sich zu seinem Schlafsack begab.

Bloody Legend - ColdbloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt