Kapitel 23

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Schlafen, was ist schon schlafen? Alle sagen mir ich muss schlafen, zur Ruhe kommen, aber wie soll ich das machen? Sobald ich zur Ruhe komme, meine Augen schließe, sehe ich ihn vor mir, mit seinen verschiedensten Formen der Gesichtszüge! Mal lächelnd, mal lachend, mal gierig, mal verführerisch, mal glücklich, mal verzweifelt und manchmal sehe ich ihn einfach leblos vor mir liegen. Kein Ton ist mehr zuhören, keine Stimme die mich beruhigt, die mir zeigt geliebt zu werden, keine Stimme mehr die Gänsehaut in mir ausbrechen lässt, er ist gegangen und hat mich alleine gelassen! Nein alleine hat er mich nicht gelassen, er hat mir das schönste Geschenk gemacht was ich mir wünschen hätte können, er hat mir jemanden hinterlassen der mich auf ewig an ihn erinnern wird, einen der das gleiche Lächeln hat wie er, meinen Ben! Mein kleiner Ben der seit Tagen viel weint und seinen Papa vermisst, er versteht plötzlich nicht das er nicht mehr greifbar ist und warum er nicht einfach von ihm in die Arme genommen werden kann, damit er sich besser fühlt! Ich kann es kaum ertragen ihn so zu sehen, ihn leiden zu sehen, seine verzweifelten Lippen die vibrieren bei jeder Sehnsucht die nicht gestillt werden kann, nicht von mir und nicht von jemand anderem. Ben verweigert jegliche Nähe anderer, ich bin die einzige die er an sich lässt und manchmal Damian, der seinem Papa ansatzweise ähnlich ist. Ein kleines vier Monate altes Baby vermisst seinen geliebten Papa und keiner kann ihm das vermissen nehmen, weil es einfach unmöglich ist einen Papa zu ersetzten. Abends lege ich ein Oberteil von Alex in sein Bettchen, damit er wenigstens Papas Geruch riechen kann und das sind einige wenige Momente wo er zur Ruhe kommt und er zwei Stunden schläft, ich trau mich nicht dran zu riechen, ich habe Angst Ben den Geruch wegzunehmen und ich habe Angst nicht loslassen zu können. Akzeptiert habe ich es noch lange nicht, registriert auch noch nicht so richtig, manchmal hoffe ich immer noch, dass die Tür aufgeht und er einfach reinkommt, als wäre nichts passiert. Ben ist erschöpft und ich bin erschöpft, wir können beide nicht mehr! Es sind dauernd Menschen um uns, Menschen die wir lieben und die uns lieben, aber die wir beide im Moment schwer ertragen! Sie meinem es gut, wollen uns helfen und unterstützen, sie wollen uns irgendwas abnehmen, erleichtern, aber es funktioniert einfach nicht. Manchmal bin ich gemein, ungerecht und undankbar, trotzdem kommen sie immer wieder und trotzdem versuchen sie einfach zu Lächeln. Weil sie genau wissen wie schwer es ist, wie niedergeschlagen wir sind und das es einfach nur aus Hilflosigkeit und die Leere, die einen füllt ist. Wie kann Leere einen füllen? Leere bedeutet vom positiven ausgesaugt zu werden damit das negative vorhanden ist, ausgetauscht von negativen Gedanken, umzingelt von Schwärze und Trauer!

Seit diesem Tag, was ich am liebsten aus meinem Leben löschen würde, treiben mich Gedanken der schuld. Ich wollte nicht das er an diesem Tag arbeiten geht, er sollte bei uns bleiben, ich hätte hartnäckiger bleiben müssen, es sogar einfordern müssen! Er war einkaufen
weil Ben nicht genügend Windeln mehr hatte, ich hätte dafür sorgen müssen, das immer genug da ist, ich hätte ihm schreiben müssen, das ich Windeln gekauft habe. Ich kenne oder kannte doch mein Alex, ich wusste wie aufmerksam er ist und sowas sofort registrier, ich hätte wissen müssen, das er noch was besorgt. Wäre das alles anders gekommen, wäre er jetzt noch am Leben und ich hätte mich an ihn kuscheln können. Aber was ich noch hätte machen müssen, ist ihm sagen wie sehr ich ihn liebe und was für ein toller Papa er ist! Ellen sagt dauernd „er wusste es, er wusste wie sehr du ihn liebst". Bestimmt wusste er es, aber ich würde es ihm so gerne noch einmal sagen!

Alex seine Familie ist genauso am Boden zerstört wie wir, sie haben ihren Sohn und Bruder verloren. Sie sind genauso verzweifelt wie wir und dennoch versuchen sie sich bei mir zusammen zu reißen. Bis auf einmal, Alex seine Eltern und Damian waren da um einiges über die Beerdigung zu besprechen, obwohl mir überhaupt nicht danach war, Ben hat wie die letzten Tage nur geweint und ließ sich nicht beruhigen. Corina die Mama von Alex konnte Ben sein Leid nicht mehr ertragen und ihre Fassade des zusammenreißens ist zerbröckelt, sie fing bitterlich an zu weinen, sie schluchzte immer wieder „ich Ertrag das nicht, gibt ihm sein Papa zurück" Damian nahm sie in die Arme und versuchte ihren zitternden Körper zu beruhigen. Ich war überfordert und geschockt, nicht weil ich überrascht über ihre Reaktion war, ich war geschockt das ich ihre Trauer die ganze Zeit nicht richtig registriert habe oder es von mir weggeschoben habe.

Ich sitze mit Ben auf meinem Bett und füttere ihn, leider ist seit diesem einen Tag meine Milch ausgeblieben. Ich kann ihn nicht mehr stillen, es kommt einfach nichts mehr. Es ist so schlimm für mich, die Momente des Stillens haben uns verbunden, ich konnte ihm was von mir geben, irgendwas was gut ist und jetzt sitzen wir zwar Immer noch eng zusammen und er ist an meinem Körper gepresst, aber es ist nicht mehr das gleiche. Er muss sich von Mama und Papa im Stich gelassen fühlen, Papa der nicht mehr kommt und Mama die ihm ihre Nahrung nicht mehr geben kann. Ich beobachte mein Sohn wie er an seiner Flasche saugt, ich streiche über sein flaumiges Haar und es klopft an der Tür und wird geöffnet. Ellen steckt ihr Kopf rein „Tilla wir müssen dann bald los" sagt sie ruhig, ich nicke ihr zu und blicke wieder zu Ben um zu schauen, wieviel noch in seiner Flasche ist. Heute ist die Beerdigung von Alex, die ganze Nacht habe ich kein Auge zugemacht, der Gedanke das er heute in ein kalten Boden herabgelassen wird, macht mir Angst, er hasste die Kälte und jetzt wird er ewig in diesem liegen! Es ist ein schöner Februar Tag, die letzen Tage des Monats sind angebrochen und für Februar ist es ziemlich freundlich und hell draußen, es scheint sogar die Sonne. Ben hat den Lieblings Strampler von Alex an, was er an ihm sehr mochte und ich das Lieblingskleid von ihm, was uns schon  ziemlich aufregende Abende bescherte! Es ist  schwarz und dünn, ziemlich unpassend für den Winter, aber es ist mir egal, mir ist eh innerlich kalt und ich fühle mich abgestorben, würde man mich mit einer Nadel stechen, kein Tropfen Blut würde aus den Adern fließen, so eingefroren fühle ich mich. Ben hat fertiggegessen, nach seinem aufstoßen leg ich ihn aufs Bett und er beobachtet mich mit seinem braunen Augen, wie ich an meine Schublade gehe und die letzten Worte für Alex herausnehme. Ich habe ihm ein Brief geschrieben, ein paar Zeilen die ich ihm gerne sagen würde und ein Bild von uns als Familie dazu gelegt. Meine Augen wandern über das geschriebene, Tränen füllen sich und die letzten Worte lese ich noch einmal für mich laut vor.

.... manchmal liege ich wach und denke daran  wie es sich anfühlt wenn du mich küsst. Wenn sich unsere Lippen erst nur sanft berühren. Wir dann den Kuss vertiefen und unsere Körper drauf reagieren. Wenn wir uns atemlos in den Armen liegen und das aufsteigende Verlangen genießen.

guck mir noch ein letztes Mal in die Augen, küss mich und sag mir, dass ich die schönste für dich bin. Und dann lass ich dich gehen, weg von hier! All das bringt mir nichts mehr außer Schmerz! Du wirst mich nicht mehr retten können...

Ich kann nicht mehr weiterlesen, die Worte Ersticken in mir  und ich bekomme keine Luft mehr, schnell laufe ich ins Bad um mich zu übergeben. Der ganze Ballast und Druck entlädt sich. Ich stehe vor dem Spiegel, tropfe meinen Mund trocken, schaue in mein blasses Gesicht und greife in mein Spiegelschrank um Make-up herauszuholen um die Augenringe zu vertuschen. Als ich zurück aus dem Bad komme, hat meine Schwester Ben im Arm und Ellen hebt mein Brief und das Foto vom Boden auf, was ich aus der Hand fallen lassen habe. Beide Frauen schauen mich fragend an, ich versuche zu Lächeln, dann gehe ich in den Flur um mir meine Stiefel anzuziehen. Jenny zieht Ben an und ich nehme ihn ihr ab, küsse mein Sohn, Streife über seine Wange. Ben gähnt und ist müde, er findet es überhaupt nicht witzig raus zu müssen, trotzdem ist er heute ruhiger als die letzten Tage, er hat sich wohl damit abgefunden, das sein Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird. Wir steigen in Ellen ihr Auto und fahren los um uns auf den Weg zum Friedhof zu machen. Als wir an der Kreuzung vorbeifahren, wo es passierte, sticht mein Herz, das ist mein Friedhof, hier wo es passiert ist, da wo er mir genommen wurde....

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