Kapitel 29

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Ben und ich stehen am Terrasenfenster und schauen raus, seit über einer Woche kommt uns täglich ein Vogel besuchen, er fliegt vor dem Fenster hin und her, pikt nach Futter auf dem Rasen und ruht sich immer auf dem großen Kirschbaum aus. Ben liebt es diesen Vogel zu beobachten, er klatscht mit seinem speckigen Händen auf dem Fenster, mich wundert das dieser Vogel nicht Angst bekommt und wegfliegt. Es ist genau heute ein Monat her, dass Alex von uns genommen wurde, man lernt nur damit zu leben, aber wie tief der Schmerz in einem verankert ist, kann man nicht beschreiben, weil es keine Worte dafür gibt. Es gab wieder Nächte in denen ich durchgeschlafen habe, ob es aus Erschöpfung weil ich den ganzen Tag vorher geweint habe und die Nächte davor überhaupt nicht geschlafen habe war oder war es einfach die Hoffnung das ich von ihm träumen könnte. Alex sein Handy liegt immer noch in der Schublade, seine Sachen liegen genauso da wie er sie hingelegt hat, seine Hose hängt noch über dem Stuhl im Schlafzimmer, die angeknabberte Tafel Schokolade ist immer noch auf seinem Schreibtisch vor seinem Laptop, seine Zahnbürste ist in seinem Becher, die wartet wieder benutzt zu werden. Ich kaufte immer noch automatisch seinen Lieblings Joghurt und zwinge mich  ihn aufzuessen, obwohl ich es nicht unbedingt mag, in der Hoffnung ihm dadurch irgendwie nah zu sein. Seine Post stapelt sich auf der Kommode direkt am Eingang und seine Pakete die er noch bestellt hatte, stehen gestapelt unausgepackt in seinem Büro. Alex seine Eltern kommen zwei bis drei mal die Woche uns besuchen, immer legen sie mir wortlos Geld auf den Tisch, um irgendwas auszugleichen und ein Unterhalt für Ben zu ermöglichen. Ich mag dieses Geld von Ihnen nicht, aber sie fühlen sich dadurch besser, weil sie nichts anderes mehr von Alex haben, außer Ben. Ich bin im Mutterschutz und gehe nicht arbeiten, das bisschen Geld was ich bekomme, reicht natürlich nicht für dieses große Wohnung und uns beide aus. Es war alles anders geplant, Alex war mit eingeplant und jetzt muss ich schauen, wie ich das hinbekomme. Ich muss Anträge ausfüllen, die sich auf dem Esstisch stapeln und angefangen wurden auszufüllen, aber nicht weitergeführt wurden. Mir fehlt Elan und die konzentration dafür, dann denke ich mir, es ist mir alles egal, ich werde das irgendwie schaffen, aber im Moment muss ich diesen Verlust und die Angst vor der Zukunft verarbeiten. Meine Eltern kommen im Moment ziemlich oft, in meinem Augen viel zu oft! Ich möchte mal niemanden außer Ben um mich herum haben, einfach klar denken und die Stille  verarbeiten, aber sie erlauben mir nicht zur Ruhe zukommen. Sie sind der Meinung sie müssen mich umsorgen wie so ein kleines Kind, was nicht weiß was es macht. Vor zwei Tagen hat meine Mutter sogar einfach meine Wohnung gesaugt und das ging mir zu weit, ich habe sie nachhause geschickt und um ein paar Tage Pause voneinander gebeten, bis jetzt hat sie sich dran gehalten. Damian kommt nicht so oft, seine Trauer kommt jetzt erst so richtig zum Vorschein, ich glaube sein Kopf hat jetzt erst registrier was da geschehen ist und sein Herz ist verstummt. Die letzten Wochen wurde ich überhäuft von Karten und Nachrichten, die Ihren Beileid erkundeten. Ellen ist immer präsent, obwohl sie nicht immer kommen kann, wir schreiben täglich und genießen auch mal nichts voneinander zu hören, also ich zumindest. Seit gestern bombardiert sie mich mit Fragen, ob ich heute zuhause bin und ob ich was vorhabe, sie würde gerne mal  mit Ben und mir raus, was essen gehen. Als sie mich endlich soweit hatte und ich ihr zugesagt habe, das ich mich mal raus traue, außer um einkaufen zufahren, konnte sie meiner Zustimmung kaum glauben. Das fahren ist auch ein Problem nach Alex seinem Unfall, ich habe Angst davor, Autos haben im Moment ein schrecklichen, beängstigenden Ausdruck auf mich. Auch wenn Fahrzeuge an mir vorbeifahren, zucke ich teilweise zusammen und mache einen Riesen bogen um sie. Die Kreuzung wo es geschehen ist vermeide ich vollkommen, ich mache lieber einen Umweg, bevor ich da noch einmal durchfahren muss.

Ben motzt als ich ihn vom Fenster wegziehe und ich eigentlich mal nach der Wäsche in der Waschmaschine nachschauen wollte, ob es schon fertig ist. Ich muss lachen weil sein Aufschrei immer lauter wird. Ich drehe ihn zu mir und beobachte seine Mimik die dabei entsteht „wir können doch nicht den ganzen Vormittag am Fenster stehen und diesen Vogel beobachten" sag ich ihm, ihm sind meine Worte egal und er schnauft mit seiner kleinen Schnute. Also drehe ich ihn wieder um, nach dem ich ihn einmal geknutscht habe und zu meinem Glück ist der Vogel verschwunden. Ben sucht ihn mit seinen Blicken und als er bemerkt das dieser Pechschwarze Vogel nicht mehr zusehen ist, hat er auch keine Lust mehr und beugt sich meinem Wunsch und wendet sich vom Fenster ab. Ben und ich schauen nach der Wäsche, während ich ihn im Arm halte und die Wäsche in den Korb ziehe, hilft er mir und greift auch nach dieser und versucht was in sein Mund zu nehmen. Nachdem die Wäsche im Trockner verstaut ist, gehen wir in die Küche, Ben darf seit ein paar Tagen, Brei essen. Also schäle ich ein paar Kartoffeln und Karotten um sie für ihn zu kochen. Er liegt auf seiner Wippe und beobachtet mich bei der Arbeit und im Hintergrund läuft Musik, zu dieser Melodie wippt er mit seinem Körper und hat Spaß dabei. Ein Baby müsste man sein, ohne jegliche Probleme und Trauer die einem auffrisst, man vergisst sehr schnell und hat immer die Hoffnung, das was schönes passiert oder das liebende Menschen einfach wieder auftauchen.

Gegen Abend ruft mich Ellen an und sagt für heute Abend ab, ich musste ihr Versprechen was zu essen. Damit habe ich noch ein großes Problem, kein Appetit und kein Brocken geht meine Kehle hinunter, ohne dabei Trauer zu spüren. „Wenn du mir nicht versprichst was zu essen, bestelle ich Dir eine Pizza" droht sie mir an und ich muss ihr sogar Beweisbilder schicken, so sehr macht sie sich sorgen.

Als ich mir gerade überlege, was ich mir zum Essen machen könnte und ob auch ein Stück Brot Ellen ausreichen würde, klingelt es an der Tür. Entweder ist es Ellen die mir nicht traut und trotzdem gekommen ist oder es ist die angedrohte Pizza, für heute hatte sich keiner vorangemeldet. Mit Ben im Arm drücke ich den Öffner für die Tür vorne und mache meine Haustür auf. Die Tür geht auf und genauso unerwartet wie das letzte mal, steht Roman mit einer Tüte vor mir, er schaut mich lächelnd an und kommt wie selbstverständlich auf mich zugelaufen. Immer noch perplex das er da ist, stehe ich an der Tür, Roman stellt sich vor mich „ich bin dein persönlicher Koch für heute!" sagt er mit voller Überzeugung. Ich starre ihn unwirklich an und dann mach ich ein Schritt beiseite damit er rein kann, Ben freut sich über unser Besuch und brabbelt drauflos. Roman stellt seine mitgebrachte Tasche ab und dreht sich wieder zu uns.

Tilla: persönlicher Koch also? Schickt dich Ellen?

Roman lächelt: ich sag mal so, sie hatte mir von eurer Verabredung erzählt und dann dass sie absagen musste!

Tilla: ihr telefoniert miteinander?

Roman: ich frag ab und zu nach Dir!

Tilla: warum fragst du mich nicht?

Roman: weil sie mir die Wahrheit sagen würde!

Ich schau ihn lange an, er hat recht, ich würde ihm wirklich nicht die Wahrheit sagen. Er merkt das ich darüber nachdenke und er sieht auch wie Ben strampelt um von Roman begrüßt zu werden. Roman sagt „siehst du, ich habe doch recht!" dann beugt er sich zu Ben und gibt ihm einen kleinen Stupser auf seine Nase, Ben gefällt das und lacht. Dann fragt er mich ob er Ben halten darf, er habe geübt, zwar nicht mit einem Baby, aber er weiß jetzt wohl wie man das macht. Ich reiche ihm Ben, Roman nimmt ihn ganz vorsichtig und Ben gefällt es. Nachdem beide ihre richtige Position haben und sich gut verstehen, beugt sich Roman zu mir und drückt mir ein Kuss auf die Wange, danach sagt er „hallo Tilla, schön das ich für uns kochen darf" ich muss Lächeln „hallo Roman, schön das du für uns kochst" und Ben lässt ein vergnügtes piepsen von sich. Roman hebt Ben etwas hoch um ihn besser betrachten zu können „groß bist du geworden" stellt er fest, Ben zeigt sein schönstes  Lächeln als müsste er es ihm bestätigen! Irgendwann bekomme ich Ben wieder in die Arme gedrückt und Roman schaut mich an  „darf ich in der Küche loslegen" ich nicke ihm zustimmend zu. Die Schränke und Schubladen werden immer wieder geöffnet, bis jedes Utensil gefunden wird, anstatt zu fragen wo was ist, wird einfach alles durchstöbert. Ben und ich beobachten Roman vom Esstisch aus wie er schneidet, abschmeckt und konzentriert arbeitet und vor allem pausenlos irgendwelche Geschichten erzählt, von denen wir absolut keine Ahnung haben, Ben Lutsch an seinen Fingern und hört Roman aufmerksam zu und ich finde mein lachen zurück, was ich dachte verloren zu haben.....

Hold my hand Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt