Kapitel 1 - Das Borderland

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Noch kurz nach dem Klingeln, welches die nächste Stunde mit einem unangenehmen schrillen Ton einläutet, stehe ich in einer der Sportumkleiden im Westgebäude und binde mir meine weißen Turnschuhe mit jeweils einem perfekten Doppelknoten zusammen. Ich habe mir wohl zu viel Zeit gelassen, denn die meisten sind schon raus auf den Sportplatz gelaufen um sich aufzuwärmen mit kleinen Sprints oder Dehnübungen, wohingegen die Sportstudenten von dem Kurs zuvor schon unter der Dusche verschwinden.  

 "Sayuuri, kommst du endlich? Du bist heute ganz schön spät dran", sagt eine meiner Freundinnen lachend und stellt sich wartend an die Tür. Sie überprüft ihre Fingernägel und ich versuche mich zu beeilen, bevor unser Coach uns noch Strafrunden rennen lässt. Ich schaue mich kurz im Spiegel an und streiche meine Cheerleader-uniform glatt.

"Tut mir Leid Norikita, ich komme ja", winke ich lächelnd ab um sie zu beruhigen. Sie ist einer der ungeduldigsten Menschen diesseits der Erdkugel und alleine dass sie immer noch auf mich wartet obwohl ich vorhin komplett in Gedanken versunken war, beweist dass sie sich wirklich um unsere Freundschaft bemüht.

Ich drehe mich noch ein letztes Mal zu der tiefen, hölzernen Bank um meine Sporttasche zu nehmen und damit Norikita durch den dunklen Gang folgen kann. Ich wende mich den jubelnden Geräuschen zu und kann die Footballspieler am anderen Ende des Ganges sehen, die von ihrem Aufwärmtraining zurückkommen und die Umkleiden ansteuern. Ich höre schon die Trompeten, welche das Spiel einläuten und das Schulorchester. Lachend drehe ich mich nach vorne und ein bekanntes, warmes Gefühl schleich sich in meine Brust. Mir liegt nicht viel an er Aufmerksamkeit des Publikums, nur darin mit meinen Freundinnen und Teamkameraden auf dem Rasen zu sein und das zu tun, in dem wir gut sind. Da Norikita durchschreitet als erstes die blaue Doppeltür und sobald diese zufällt, taucht sie den kalten Gang wieder in Dunkelheit. Ich stoße sie wenige Sekunden später auf und mit einem breiten Grinsen im Gesicht reiße ich eine Hand hoch um der Menge zuzuwinken, wie meine Freundin es mir immer beipflichtet.

Doch plötzlich ist alles totenstill. Ich sehe mich verwirrt um und werde langsam nervös: Die Tribünen sind nicht mehr überladen, es ist kein einziger Spieler auf dem Feld oder die Band auf ihrer provisorischen Tribüne. Es läuft keine Musik, die Jubelschreie sind verschwunden und irgendwie habe ich das Gefühl, dass es ein wenig kälter geworden ist.

"Hallo?", rufe ich halblaut. Ist das irgendein aufwendiger Streich? Ich sehe mich ein wenig um und mir wird immer unwohler. Auf dem anderen Sportplatz ist auch niemand zu sehen und ich drehe mich immer wieder nach hinten, um irgendjemanden zu entdecken. Ich laufe in die Schwimmhalle und selbst der achtzigjährige Hausmeister, der immer auf einer der hinteren Bänke seinen Mittagsschlaf hält ist verschwunden. Ich laufe wieder in das Hauptgebäude, und obwohl vor zwanzig Minuten die Gänge noch voller Studenten waren, ist die Stille erdrückend. Ich werde leicht panisch und krame in meiner Sporttasche herum, bis ich mein Handy spüre und es herausziehe. Der Display geht nicht an, egal wie oft ich auf den Schalter drücke. I

"Ich habe doch gerade erst den Akku wieder aufgeladen", murmele ich und höre ein leises Geräusch. Ich folge diesem Ton durch das Gebäude und laufe nach draußen in Richtung Kantine. Das Geräusch ist mittlerweile sehr laut geworden und drehe mich immer wieder in alle Richtungen. Ich höre abermals genau hin, damit ich nicht noch panischer werde und mein Blick gleitet nach oben.

"Das ist doch jetzt ein Scherz"

Die Fahne der Universität hängt nicht richtig an der Fahnenstange und das Metall klappert durch den Wind immer wieder aneinander. Ich schließe meine Augen und versuche tief durchzuatmen. Ich bin von dem einen auf dem anderen Moment die einzige Person auf dem ganzen Campus. Es ist ein wenig dunkler geworden und ich fasse den Beschluss, nach Hause zu gehen. Vielleicht haben meine Eltern mitbekommen was hier los ist. Ich laufe ein letztes Mal zu den Umkleiden und suche die Spinte nach einer Jacke ab. Bei den Jungs finde ich eine Football-Jacke von einem der Spieler, den ich kenne. 

Ich schnappe mir meine Sporttasche und versuche immer wieder mein Handy anzuschalten, während ich den Campus verlasse. Aber keine Chance, das blöde Ding bleibt schwarz. Als ich an den Bahnhof komme, schaue ich mich immer verwirrter um, den niemand ist weit und breit hier. Keine Bahn fährt auf den sonst so vollen Gleißen, keine Straßenbahn, keine Autos. Ich fange an schneller zu gehen, aber es wird immer dunkler und ohne eine Bahn ist es ganz schön weit bis zu dem Haus meiner Familie. 

Die Lichter der Reklamen leuchten auf und erhellen mir den Weg, aber die einzige hier zu sein ist ein seltsames Gefühl. Ein flackern in meinem Augenwinkel erregt meine Aufmerksamkeit und ich sehe in die Richtung. Auf einer großen, weißen Tafel erscheint immer wieder blinkend ein Text. 

Zum Spiel hier entlang    

Mein Blick folgt den blinkenden Pfeilen zu einer Bibliothek. Der Eingang ist beleuchtet und dort entdecke ich sieben Gestalten. Mein Herz rast schneller und ich laufe zu ihnen hinüber. Sie alle starren mich nur stumm an und ich sehe mir alle genau an. Es ist eine ältere Frau, zwei schlanke dünne Jungs, ein Mann im Anzug, ein fast zwei Meter großes Mädchen und zwei weitere Männer. Ich will gerade etwas sagen, doch sie schauen alle wieder auf ihr Handy hinab. Der Mann, welcher mir am nächsten steht wirkt am wenigsten bedrohlich. Er ist sehr elegant angezogen mit seinem Hut, dem Jackett und einer goldenen Taschenuhr, welche ich an der Kette erkennen kann. Er ist der Einzige, welcher mich freundlich angrinst. 

"Entschuldigung, aber könnte ich vielleicht mal Ihr Handy benutzen? Ich würde gerne meine Eltern zu Hause anrufen"

"Lass mich raten, du bist neu hier"

"Nein ich wohne hier aber...", versuche ich zu erklären, doch er unterbricht mich und gestikuliert wild mit seinen Händen.

"Nein nein nein, das meinte ich nicht. Die ganzen Leute sind plötzlich verschwunden und sowohl Handys als auch Autos funktionieren nicht mehr?"

"Ja, was ist hier los?"

"Ich vermute es ist eine Art Spiegelwelt. Ich bin Satoru"

"Sayuuri", stelle ich mich vor und er dreht sich ganz zu mir. Die anderen schauen immer wieder von ihren Handys zu uns auf, doch sagen tuen sie nichts. Eine Spiegelwelt? Hat er vielleicht etwas genommen oder geraucht? Nein, keine geweiteten Pupillen oder geröteten Augen. 

"Man braucht ein sogenanntes Visum. Durch Spiele wie das, wo wir hier gerade anstehen, bekommt man die Tage der Schwierigkeitsstufe gutgeschrieben", erklärt er weiter und nimmt von dem Stapel Handys in der Mitte eins und drückt es mir in die Hand.

"Und wenn man nicht spielt kommt man wieder nach Hause?"

Noch zehn Sekunden bis zum Spielbeginn.

Diese Stimme kommt aus meinem Handy. Ich versuche irgendeine App zu öffnen, aber das einzige was passiert ist, dass die Worte "Gesichtserkennung abgeschlossen" auf dem Display erscheinen. Der Mann nimmt mich an den Schultern und dreht mich sanft in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Ein weiterer Anzugmann kommt angerannt und ihm steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Hektisch schwingt er die Arme hin und her um sein Tempo zu erhöhen und ich lege meinen Kopf nur fragend auf die Seite. 

"Dann geschieht das"

Die Zeit ist abgelaufen.

Ein roter Laser bohrt sich blitzschnell durch den Kopf des Mannes und er bricht sofort zusammen. Ich erschrecke und schlage die Hand vor den Mund. Der leblose Körper des Mannes schlittert noch einen halben Meter weiter und bleibt dann schlaff am Boden liegen. 

"Man stirbt", stelle ich fest. Es hört sich eher wie ein Krächzen an und meine Augen füllen sich leicht mit Tränen. Allmählich fange ich an zu verstehen, was der Mann mir mitteilen möchte. 

"Und falls du jetzt noch wegrennen willst, du hast da vorhin eine Laserwand durchquert, und wenn du abhaust geschieht dir das gleiche wie dem armen Schwein dahinten"

Das Spiel beginnt.

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt