Kapitel 12

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Merkwürdigerweise blieb er den Rest der Stunde still und ignorierte mich gänzlich, aber das beunruhigende Gefühl zu weit gegangen zu sein blieb. Als es klingelte rannte ich förmlich aus dem Raum, um mich vor ihm zu verstecken. Mir war bewusst, dass das ziemlich erbärmlich war, denn ich wollte ja mutig sein und nun kam ich mir vor wie eine Witzfigur, da ich nach einem mutigen Spruch sofort wegrannte. Zum Glück begegnete ich ihm nicht mehr bis zur Mittagspause. Von weitem sah ich ihn am Tisch der "coolen" Schüler, ich hielt mein Blick gesenkt und kaufte mir nur schnell mein Brot. Ich hoffte, dass ich genauso unbemerkt und unauffällig die Cafeteria verlassen hatte, wie ich sie betreten hatte. Ich machte mich auf den Weg zur Bibliothek bis mich jemand zurück riss. Erschrocken schaute ich in die kalten blauen Augen von Jonathan. Schnell machte ich einen Schritt zurück, um mehr Raum zwischen uns zu schaffen. Seine Augen funkelten mich böse an und meine Hände begannen zu zittern. Ich klammerte meine Hand verzweifelt um das Stück Brot, doch das würde mir von allen Gegenständen hier im Flur noch am wenigsten helfen. Er ging einen Schritt auf mich zu und ich automatisch einen zurück. Er wirkte siegessicher, das ließ mich noch unsicherer werden. Dieses Spiel ging noch drei Schritte so weiter bis mein Rücken Kontakt mit der Tür aufnahm. Nun wusste ich, warum er den Triumph in seinen Augen für alle leserlich stehen hatte. Ein arrogantes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen und er kam mir viel zu nah. Seine Augen fixierten mich und plötzlich griff er den Kragen meines Pullovers. Erschrocken versuchte ich einen Ausweg zu finden. "Du kannst nicht fliehen, Freak. Den Ärger hast du dir selbst zu zu schreiben. Hälst du mich eigentlich für einen Narren?" Er klang bedrohlich und unheimlich wütend. Mittlerweile zitterte mein ganzer Körper, vor allem als mir klar wurde, dass er recht hatte. Es gab keinen Ausweg. Er hatte mich fest in seinem Griff. "Ich habe dir schon mal gesagt, dass du mich ansehen sollst, wenn ich mit dir spreche." Ängstlich schaute ich zu ihm hoch und als sich seine Schulter zurück bewegte, sah es so aus, als würde er mich im nächsten Moment schlagen. Aus Reflex zuckte ich zusammen und hielt schützend meine Hände vor mein Gesicht. Plötzlich ließ er mich los. Irritiert sah ich zu ihm und schaute in sein schockiertes Gesicht. "Hast du gedacht, ich würde dich schlagen?" Er klang verletzt und geschockt, doch ich sah nur meine Chance endlich aus dieser Situation zu fliehen. Also nutzte ich sie und rannte zur Bibliothek. Als ich dort ankam, raste mein Herz noch immer wie verrückt und pumpte unaufhörlich gegen meinen Brustkorb. Meine Gedankenwelt war ein reinster Hurricane. Ich konnte, die auf mich ein prasselnden Gedanken kaum sortieren. Das Buch, dass ich in den Pausen las, ließ ich im Regel und setzte mich in meine Ecke, um mich zu beruhigen. Wie eine Maus knabberte ich an meinem Brot, nach der Aufregung hatte ich keinen Hunger, aber ich wusste, dass der Apfel von heute morgen mich nicht lange satt halten würde. Jonathans eisblaue Augen geisterten immer wieder durch meine Gedanken. Ich sollte ihn nicht wieder so sauer machen. Was wollte er, wenn er mich nicht schlagen wollte? Wieso wirkte er so verletzt? Bei dem was er und das Footballteam mir schon angetan haben, wäre ein Schlag nichts verwunderliches und doch erwischte ich mich, dass ich sauer auf mich war. Schließlich war es ein Reflex, den ich nicht mehr aufhalten konnte. Wenn ich sehe, dass sich etwas abrupt in meinem Augenwinkel bewegt, zucke ich zusammen. Dafür hatte mich mein Onkel schon zu oft geschlagen, um nicht so zu reagieren. Ich musste jederzeit wachsam sein, zu oft hatte er mich erwischt, während ich nicht damit gerechnet hatte und diese Schläge waren meist sehr schlimm, da ich mich nicht schützen oder auffangen konnte. Diese Reflexe hatten sich in meine Seele eingebrannt. Also verflog der kurze Anflug von Wut, denn mir war klar, ich konnte nichts dafür, dass ich zusammen gezuckt war. Doch der verletzte Ausdruck in seinen Augen ließ mich nicht los. War es ihm etwa wichtig, was ich von ihm dachte? Schließlich hatte er nie den Eindruck gemacht, dass meine Meinung mehr wert wäre als Dreck. Oder war er nur schockiert über meine Reaktion? Hoffentlich zählt er nicht eins und eins zusammen. Er darf nicht wissen, dass ich zu Hause geschlagen werde. Aber andersherum würde ihn das wahrscheinlich wenig interessieren. Meine Gedankenflut kostete ziemlich Kraft und hielt den Tag über an. Selbst als ich neben Mom im Krankenhaus saß und meine Hausaufgaben machte. Ich hatte das dringende Bedürfnis mit ihr darüber zu reden, aber ich schluckte es die ganze Zeit schon herunter, weil das Erlebnis zu viel von meinem Leben momentan preis geben würde, dass ich vor ihr versteckt hielt. Also überlegte ich angestrengt, wie ich die Geschichte umformulieren könnte, um sie mir trotzdem von der Seele zu reden. Ich hatte mir das erste Gespräch über einen Jungen mit meiner Mom ganz anders vorgestellt, nicht im Krankenhaus und vor allem wünschte ich mir so sehr ihren guten Rat, doch sie wird mir einer Antwort fürs erste schuldig bleiben. Ich konnte mich kaum auf die Hausaufgaben konzentrieren und hörte nun seufzend auf. Also legte ich los und erzählte Mom von Jonathan, von seinem gutem Aussehen, seinen Stimmungsschwankungen und seiner netten Art, die er leider nur zu wenig zeigte. Erschrocken stellte ich fest, dass sich während dem Erzählen immer wieder ein Lächeln auf meine Lippen stahl. Fing ich etwa an ihn zu mögen? Ich hasste ihn und doch musste ich mir eingestehen, dass ich seine liebe und nette Art begann zu mögen, doch die machte ja nur einen minimalen Teil von ihm aus, weshalb ich schlussendlich doch zu der Folgerung kam, dass ich ihn noch immer zu 99,9% nicht mochte. "Von welchem Jungen sprechen wir denn hier?" Erschrocken zuckte ich zusammen. Dr. Brenigan stand in der Tür. "Tut mir leid, ich wollte nicht lauschen, aber du klangst schon lange nicht mehr so aufgeregt.", sagte sie lächelnd und kam herein. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schließlich konnte ich ihr ja nicht erzählen, dass ich über ihren Sohn sprach und vor allem nicht, dass ich mir gerade noch versichert hatte, ihn weiter nicht zu mögen. "Ähm.", brachte ich nur unsicher hervor. "Alles gut, du brauchst mir den Namen nicht sagen. Magst du ihn? Sieht er gut aus?" Sie klang aufgeregt, als sei sie meine beste Freundin, der ich gerade erzählt hätte, dass ich einen Schwarm habe. Aber ich musste mir eingestehen, dass Dr. Brenigan momentan am ehesten so etwas wie eine beste Freundin war. Ich hatte ja keine anderen Freunde. "Er sieht sehr gut aus.", gab ich stotternd zu. "A-aber er ist auch echt g-gemein zu m-mir." Sie schaute mich nachdenklich an. "Vielleicht ist das seine Art dir Zuneigung zu zeigen." Verblüfft sah ich sie an, dass meinte sie doch jetzt nicht ernst. "Jungs in dem Alter wissen noch nicht, was sie wollen und vor allem nicht wie sie Liebe und Zuneigung zeigen sollen. Die sind, wenn du mich fragst, ziemliche Angsthasen. Sie haben Angst ihre Gefühle zu zu lassen und sind dann gemein.", erklärte sie lächelnd. Ich nickte, war aber nicht überzeugt. Sie schaute traurig auf ihre Uhr. "Ich muss los, Abby. Halt mich auf dem Laufenden." Damit verschwand sie im Flur und ließ mich verwirrter als vorher zurück. Ich schaute Mom noch lange an und hoffte, dass sie mir ein Zeichen geben würde. Aber ich wurde enttäuscht, also packte ich meine Sachen und machte mich auf den Weg zurück. Kurz nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte, wurde ich auf dem Parkplatz gestoppt. "Hey Freak, was machst du hier?" Jonathan stand lässig an sein Auto gelehnt auf dem Parkplatz und grinste mich arrogant an. "Dasselbe könnte ich dich fragen.", stotterte ich hervor. "Ich hole meine Mom von der Arbeit ab. Jetzt bist du an der Reihe." "Fäden ziehen.", sagte ich nervös. Er nickte und ich sah das Gespräch nun als beendet an, also lief ich weiter. "Abby?" Ich drehte mich zurück zu ihm. "Wir sehen uns morgen im Wahlpflichtkurs." Er grinste schief und seine Augen leuchteten. "Bis dann.", stotterte ich und machte mich nun wirklich auf den Weg nach Hause. Den Jungen soll einer verstehen!

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