Kapitel 50

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Zuhause angekommen war alles ruhig. Normalerweise würde mich das beruhigen, doch heute kam es mir schon fast zu leise vor. Also schlich ich selbst durch das Haus zur Küche und begann zu kochen. Paranoid drehte ich mich ständig zu den Fenstern und der Tür. Immer wieder lauschte ich sekundenlang nach Geräuschen, aber es war weder etwas zu sehen noch zu hören. Trotzdessen lief mir zwischenzeitlich immer wieder ein kalter Schauer den Rücken herunter, als würde ich beobachtet werden oder es war nur die pure Angst, die mich wahnsinnig werden ließ. Als mein Handy vibrierte, erschrak ich mich so sehr, dass ich Minuten brauchte, um meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Erst als ich wieder etwas zu Atem kam, nahm ich mein Handy und las die Nachricht.

J: Ich bin gut zu Hause angekommen. Melde dich später, bevor du schlafen gehst.

Plötzlich hörte ich Schritte im Flur und das Knarren der morschen Haustür. Wie von der Tarantel gestochen, versteckte ich mein Handy und begann den Tisch zu decken. Mein Herzschlag wurde immer schneller und meine Hände begannen zu zittern. Dann ging die Tür auf und ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte, denn es war nicht Matthew aber sein Vater. Schwankend lief er zu seinem Stuhl und schmiss sich darauf, sodass der Stuhl knarzend nach gab. Schnell stellte ich das Essen auf den Tisch und setzte mich ebenfalls. Wie immer wartete ich darauf, dass er seinen Teller gefüllt hatte bis ich mir etwas von dem Essen nahm. Er sprach beim Essen kein Wort und ich war mir nicht sicher, ob das etwas Gutes war oder ob ich mir nicht eher Sorgen machen sollte. Nach dem Essen stampfte er ins Wohnzimmer und wenige Minuten später hörte man den Fernseher. Ich atmete etwas auf und begann mit dem Abwasch. Matthew schien noch immer nicht zu Hause zu sein. Vielleicht schläft er ja woanders? Als ich endlich alles abgetrocknet hatte, räumte ich alle Utensilien weg und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Bevor ich die Treppen hoch lief, gab ich meinem Onkel seine übliche Menge an Dosenbier für den Abend. Dann lief ich schnell und leise ins Badezimmer. Vielleicht würde ich heute unverletzt zu Bett gehen können. Meine Haltung hatte sich mehr und mehr entspannt. In meinem Zimmer machte ich den Rest der Hausaufgaben und fälschte mir mal wieder einen Attest, warum ich heute mehrere Stunden gefehlt hatte. Auch wenn mein Onkel die Hölle in Person ist, gibt es den kleinen Vorteil, dass er eine wirklich leichte Unterschrift hatte, die man mit wenig Mühe fälschen kann. Jedes Mal, wenn ich dies tat, fühlte ich mich unwohl und schlecht, aber ich habe nun mal gerade keine Eltern, an die ich mich wenden kann. Ich packte alles ein und nahm mein Handy. Es zeigte keine neuen Nachrichten, also wählte ich seine Nummer und wartete. "Hey Abby." Seine Stimme klang glücklich und erleichtert. "Hallo.", erwiderte ich und konnte es nicht verhindern, dass sich ein sanftes Lächeln auf meine Lippen legte. "Was machst du?", fragte er neugierig. "Ähm ich l-liege auf m-meiner M-matratze und h-habe zuvor alles für d-die Schule m-morgen fertig gemacht. Und d-du?" Ich hörte ihn am anderen Ende der Leitung schmunzeln. "Ich liege auf meinem Bett und gleich will ich noch zocken." Seine Stimme klang rauer am Telefon und erzeugte eine Gänsehaut auf meiner blassen Haut. "Achso.", sagte ich leise. "Ich will dich bei mir haben.", sagte er plötzlich und ließ damit mein Herz schneller schlagen. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Zwar könnte ich ihm sagen, dass ich auch gern bei ihm sein möchte, aber ich fragte mich, ob er das zu anhänglich finden könnte. "Abby, bist du noch da?", fragte er etwas lauter und unsicher. "J-ja, ich, ich wäre auch g-gern b-bei dir." Es war kurz still. "Du musst dich nicht gezwungen fühlen, dass zu erwidern.", sagte er zögerlich. "N-nein, so w-war d-das nicht. Ich h-habe n-nur zu lange n-nachgedacht." Er begann zu lachen. "Vielleicht solltest du nicht immer so viel nachdenken. Ich sage dir, irgendwann explodiert dein Kopf." Seine Stimme klang mehr als amüsiert und brachte mich dazu rot anzulaufen, obwohl er nicht mal hier war. "Du b-bist gemein.", sagte ich kleinlaut. Doch das brachte ihn nur noch mehr zum Lachen und sein Lachen war so ansteckend, dass ich es nicht verhindern konnte selbst ein bisschen zu schmunzeln. Als das Lachen am anderen Ende verstummte, wurde es kurz still. "Geht es dir gut, Abby? Niemand hat dir weh getan, oder?" Mein Herz setzte aus und ich holte tief Luft. "Mir geht es gut, Jonathan. Es ist nichts passiert." Ich konnte förmlich spüren, wie die Anspannung von ihm fiel. In den folgenden Minuten redeten wir über den morgigen Tag. Wir haben besprochen, dass er mich nur zum Krankenhaus fährt, weil er danach Footballtraining hat und ich den Bus zurück nehmen müsste. Nach langem Diskutieren habe ich nachgegeben, dass er das Ticket für den Bus bezahlen wird. Mit jedem Tag, den ich mit ihm verbrachte, hatte ich das Gefühl abhängiger von ihm zu werden und das machte mir Angst. Es sind meine Probleme, also sollte ich doch allein mit diesen fertig werden und diese allein lösen. Ich bin kein Objekt oder Institut, dass er sponsern kann. Doch er lässt es einfach nicht mehr zu, dass ich meine Probleme allein löse. Am Ende des Gesprächs haben wir uns gegenseitig eine gute Nacht gewünscht. Doch nun lag ich schon über eine halbe Stunde im Bett und konnte nicht einschlafen. Immer wieder drehte ich mich um und versuchte einzuschlafen, aber meine Gedanken ließen mich nicht. So ging es leider Stunden weiter, in denen meine Gedanken auf mich ein prasselten und meine Augen sich nicht schließen wollten. Irgendwann gegen Mitternacht hörte ich plötzlich Schritte im Flur. Kommt Matthew erst jetzt nach Hause? Wo könnte er so lange gewesen sein? Bei Jonathan? Nein, das kann nicht sein. Er hatte ja mit mir telefoniert. Das hätte er nicht, wenn Matthew bei ihm gewesen wäre. Ich legte mich auf die Lauer, doch das Echo seiner Schritte verhallte in der Stille der Nacht und es wurde ziemlich ruhig im Haus. Durch das tägliche Klopfen wurde ich wach und stöhnte genervt. Ich war noch sehr müde, sodass ich gar nicht aufstehen wollte. Mir ist nicht bewusst, wann ich endlich eingeschlafen war, aber es war spät. Müde rieb ich mir über die Augen und stand mit wackeligen Knien auf. Als ich mich etwas gefestigt hatte, eilte ich ins Badezimmer, um mich frisch zu machen. Ich brauchte nicht lange, dann lief ich bereits fertig angezogen herunter und räumte etwas auf. Danach schnappte ich mir meinen Apfel und machte mich auf den Weg zur Schule. Meinen Schal schlang ich eng an mich und meine Kapuze zog ich tief in mein Gesicht. Der Regen prasselte auf mich ein und mir war bitter kalt. Der Wind peitschte den Regen gegen meine Kleidung. Das Wetter war so dunkelgrau, als würde es einen Unheil vollen Tag ankündigen. Den Apfel hatte ich schon längst in meinem Rucksack versteckt, bei dem Wetter würde ich ihn in der Schule essen. Der Weg kam mir heute unendlich lang vor und gefühlt wurde es immer kälter, aber das lag wahrscheinlich einfach nur daran, dass ich mittlerweile so durchnässt war, dass sich Pfützen in meinen kaputten Schuhen bildeten. Endlich kam ich an der Schule an und betrat das Gebäude. Zu meinem Erschrecken war es so, als hätten alle Schüler auf mich gewartet. Als sie mich sahen, begannen sie lauthals zu lachen, zu tuscheln und auf mich zu zeigen. Schnell eilte ich in Richtung meines Spinds, als ich sah, weshalb sie alle lachten. Die Fotos hatte niemand gelöscht. Sie wurden vergrößert und massenhaft ausgedruckt. Die komplette Schule war mit den Fotos plakatiert. Jeder konnte nun sehen, wie erbärmlich ich war, wie ich litt und wie ich beschmutzt am Boden lag. Tränen stiegen in meinen Augen auf. In jedem Flur traf ich auf Gelächter bis ich endlich an meinem Spind ankam. Ich hatte gerade die Tür geöffnet, als sie wieder vor meiner Nase zu geschlagen wurde. Im nächsten Moment wurde ich mit meinem Körper gegen den Spind gedrückt. Ich konnte nicht sehen, wer mein Angreifer war. "Glaubst du wirklich, du kommst damit davon? Du erzählst Jonathan, was ich gemacht habe und bettelst ihn an mit mir zu sprechen, glaubst du, ich werde aufhören dich zu ärgern? Wie naiv bist du eigentlich? Ich habe dir gesagt, dass du dich von ihm fernhalten sollst! Halte dich besser daran oder ich mache dein Leben noch mehr zur Hölle! Ich sage es nur noch einmal, denn es scheint in deinem dummen Kopf noch nicht angekommen zu sein, halte dich fern von Jonathan!", flüsterte Matthews Stimme fordernd und bedrohlich an meinem Nacken. Mir lief es kalt den Rücken herunter und ich zitterte vor Angst. "Hast du mich verstanden?" Er drückte mich noch kräftiger gegen den Spind, sodass meine Rippen zu schmerzen begannen. "J-ja." "Gut, du bist so erbärmlich.", sagte er frustriert und ließ mich los. Ich konnte es nicht verhindern, dass nun die ersten Tränen meine Wangen herunter liefen. Hinter mir lachten und tuschelten noch immer die Schüler, die an mir vorbei zogen. Mein Herz brach. Jonathan hatte doch gesagt, dass Mathew die Bilder gelöscht hat. Wieso war ich nur so naiv und habe gedacht, dass Matthew mich in Ruhe lassen könnte? Gestern Abend war nur die Ruhe vor dem Sturm. Matthew hatte das alles geplant und entweder wusste Jonathan davon oder er hatte keine Ahnung. Doch egal, welche Option die Richtige ist, ich würde ihn nicht mehr sehen dürfen außerhalb des Unterrichts. Hätte Jonathan denn einfach so mein Vertrauen missbraucht?

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