Kapitel 6

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Als die Besucherzeit sich dem Ende neigte, stand ich schweren Herzens auf, verabschiedete mich von Mom und lief hinaus in die Kälte. Ich zog meinen Schal höher und versteckte meine Hände in den Taschen. Es war windig geworden. Die Kälte kroch langsam und leise durch die Öffnungen der Kleidung. Ich fröstelte. Der Winter kommt. Die Bäume hatten all ihre Blätter verloren. Die schönen bunten Farben der Blätter sind vergangen. Nun war alles kahl. Nur noch nasse braune Blätter lagen auf den Straßen. Der Himmel war in ein tiefes dunkles Grau getränkt und es sah verdächtig nach Regen aus. Meine Schritte wurden schneller. Ich wollte nicht auch noch nass werden. Vor dem Haus meines Onkels angekommen, begann ich zu zittern, aber nicht vor Kälte, nein, vor Angst. Ich atmete tief durch und betrat das schäbige alte Haus. Sofort nahm man den Geruch von Alkohol und Rauch wahr. Ich zog meine kaputten Schuhe aus und lief in die Küche. Erschrocken blieb ich im Türrahmen stehen. Matthew saß am Tisch und schaute mich nun bedrohlich an. Hatte er auf mich gewartet? "Ich hab gehört, Ms. Fax hat Jonathan neben dich gesetzt." Ich nickte unsicher. Seine Stimmlage war schwer einzuschätzen. Er stand auf und baute sich bedrohlich vor mir auf. Schnell machte ich einen Schritt zurück, um wieder mehr Abstand zwischen uns zu schaffen. Doch er machte noch einen Schritt auf mich zu. "Wehe, du sagst ihm was, sonst bringe ich dich um.", drohte er mit so viel Hass in der Stimme, dass ich erzitterte. "Als würde er mir glauben.", stotterte ich hervor. Matthews Blick verlor an Wut, stattdessen wirkte er nun amüsiert. Irritiert sah ich ihn an. "Das stimmt.", lachte er und doch gab es noch keine Entwarnung. Im nächsten Moment fasste er mein Kinn und zog mich schmerzhaft zu sich. "Sagst du nur ein Wort zu ihm, bekommst du meine Wut zu spüren." Ängstlich nickte ich und er ließ mich los. "Ich habe eingekauft. Du solltest lieber anfangen zu kochen.", erinnerte er mich und verließ die Küche. Schnell versuchte ich mich wieder zu fassen und begann die Lebensmittel für das Abendessen zusammen zu suchen. Ich setzte die Kartoffeln auf, würzte das Fleisch und gab es nun in die Bratpfanne. Schnell machte ich noch den Kohlrabi fertig und gab ihn in den Kochtopf. Ich wendete das Fleisch und deckte den Tisch. Innerlich hoffte ich, dass das Essen noch vor sechs Uhr fertig ist. Gerade als ich alles vom Herd hatte und zum Tisch brachte, kam mein Onkel zur Tür herein. Sein Gestank nach Alkohol und Schweiß war meilenweit zu riechen. Er war sehr korpulent und kräftig. "Ist das Essen fertig?", brummte er und schmiss sich auf den Stuhl, der knarzend nach gab. Matthew kam zur Tür herein. "Hallo Vater.", sagte er kühl und setzte sich zu ihm. "Hallo Sohn." Ich stellte die Kartoffeln auf den Tisch und setzte mich nun ebenfalls. "Wehe es schmeckt nicht.", drohte mein Onkel. Ich wartete bis beide sich etwas aufgetan hatten und nahm mir dann eine kleine Portion Kartoffeln und Kohlrabi. "Hol mir mein Bier, du kleines Miststück!" Sofort stand ich auf und holte ihm ein Dosenbier. Ich reichte es ihm und setzte mich. Verbale Beleidigungen war ich von ihm gewöhnt und sie waren viel erträglicher als seine Schläge und Tritte. Nach kurzer Stille erhob mein Onkel seine Stimme, nachdem er mich länger begutachtet hatte. "Matthew, mein kläglicher Versuch eines Nachkommens, hast du dich nicht auch schon gefragt, wie viel wir für sie auf der Straße verdienen könnten? Ich meine sie ist schrecklich hässlich, hat kaum Brüste und ist viel zu dick, aber vielleicht nehmen sie ja Blinde. Das wäre ein guter Nebenverdienst." Mir blieb der Atem in der Kehle stecken. Er will mich zur Prostitution freigeben? Ich begann zu zittern. Prostitution von Minderjährigen ist verboten. Aber es ist auch verboten seine Pflegetochter zu schlagen, also interessierte es ihn wahrscheinlich kein Stück, ob es legal war. Matthew begann zu lachen. Es klang nicht echt, aber er lachte lange und laut. "Die? Vater bitte, die nimmt nicht mal ein Blinder." Nun war seine Strategie klar, es war der leiseste Versuch mich zu beschützen. Mein Onkel sah mich an. Die Zeit schien stehen zu bleiben. "Stimmt, sie ist kein Cent wert. Gott, wie konnte meine Schwester nur so eine hässliche Göre gebären." Alle waren fertig mit dem Essen, also stand ich auf und begann den Tisch abzuräumen, um dem schrecklichen Gespräch zu entfliehen. "Bring mir noch ein Bier, Bitch." Sofort ließ ich alles stehen und liegen und brachte ihm ein neues Bier. Ich wusste, würde ich nicht schnell genug sein, würde er mich bestrafen. Danach machte ich den Abwasch. Als alles sauber war, war Matthew schon längst verschwunden. Mein Onkel saß noch immer am Tisch und sah mich an. Unsicher schaute ich zu ihm. "Der ist heute für dich gekommen.", brummte er und trank von seinem Bier. Er warf mir einen Brief zu und anhand des Aufklebers wusste ich, dass es wieder eine Rechnung war. Ich schluckte. Er hatte mich bisher jedes Mal geschlagen, wenn eine Rechung kam. Ich konnte kaum atmen vor Angst, als ich den Brief mit meinen zitterten Fingern öffnete und las. "Les den Betrag vor.", forderte er mich wütend auf. "Z-zwölf." Ich stockte. "Verdammt, lese den scheiß Betrag vor, du behindertes Miststück!" Er brüllte und hatte sich nun hingestellt. "Zwölftausendachthundert Dollar.", stotterte ich. Im nächsten Moment schallte mein Gesicht nach links. Schmerz fuhr durch meine Wange. "Hast du das Geld?", brüllte er mich an. Ich nickte. Tränen sammelten sich in meinen Augen. "Antworte mir, verdammt!" "Ja." Er schubste mich mit so einer Kraft, dass ich zu Boden fiel. "Nur Ärger bringst du über mich." Er trat mir in den Bauch, einmal, zweimal, dreimal... Ich schrie vor Schmerzen. Er stoppte."Ich wünschte sie würde endlich sterben und dich gleich mitnehmen." Damit nahm er sich ein neues Bier und verließ die Küche. Ich konnte mich nicht bewegen. Mein ganzer Körper schmerzte. Plötzlich spürte ich, wie mir das Essen hochkam und im nächsten Moment übergab ich mich auf den Boden. So viele Tränen  liefen meine Wangen hinunter und ich biss mir auf die Lippe, um nicht vor Schmerzen weiter zu schreien. Plötzlich ging die Tür auf und Matthew kam zum Vorschein. "Fuck.", sagte er erschrocken. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Szene vor ihm ausgesehen haben muss. Schnell eilte er zu mir. "Scheiße.", murmelte er wieder und hob mich aus meinem Erbrochenem. Die Tränen wollten nicht stoppen. Ich schämte mich so sehr. Unsere Blicke trafen sich. Seine Augen waren gefüllt mit Mitgefühl und Wut. Ich klammerte mich zitternd an seinen Pullover. Er lief los und trug mich hoch ins Badezimmer. Vorsichtig setzte er mich auf dem Boden ab. "Ich komme gleich zurück.", versicherte er mir. Ich nickte weinend und schaute zu, wie er den Raum verließ. Meine Rippen und mein Bauch schmerzten so sehr. Schützend hatte ich meine Arme um mich geschlungen. Ich wusste nicht, wie lange ich so dar lag. Die letzten Worte von meinem Onkel geisterten immer wieder durch meine Gedanken. Er wünschte sich mich und meine Mom tot. Plötzlich knarrte es und die Tür ging auf. Matthew kam herein und hockte sich vor mich. "Abby, du musst aufstehen und dich waschen." Ich kam mehr und mehr zu mir. Oh nein, das Erbrochene in der Küche, mein Onkel wird mich umbringen. Als könnte er meine Gedanken lesen oder nur den Schock in meinen Augen sehen, antwortete Matthew beruhigend: "Ich habe es sauber gemacht." Das hätte er nicht machen müssen. Ich hätte es sauber machen müssen. "D-danke.", stotterte ich kläglich. Er nickte. "Jetzt beeil dich. Ich habe Kleidung für dich geholt. Du hast 10 Minuten, wenn Vater nicht merken soll, dass du im Bad bist. Ich lenke ihn ab und besorge dir Schmerzmittel." Damit war er verschwunden. Auf zitternden Knien raffte ich mich auf. Jeder Atemzug schmerzte bitterlich. Irgendwie zog ich mich in die Dusche und wusch mich. Das kalte Wasser kühlte ein wenig die Prellungen, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass eine meiner Rippen mehr als nur geprellt ist. Ich stieg weinend aus der Dusche und hielt mich am Waschbecken fest, als ich meinen Körper trocknete. Zum Glück hatte er mir gemütliche weite Kleidung geholt. Ich war Matthew für seine Hilfe unheimlich dankbar. Allein hätte ich ewig gebraucht mich aufzuraffen. Schnell putzte ich noch meine Zähne und humpelte leise in mein Zimmer. Vorsichtig legte ich mich auf meine Matratze. Neue Tränen sammelten sich in meinen Augen. Kann der Schmerz bitte verschwinden? Ich kann nicht mehr. Leise klopfte es und Matthew kam mit einem Glas Wasser herein. Er sagte nichts, schaute mich kaum an. Er reichte mir nur das Glas und eine große weiße Tablette. "D-danke.", stotterte ich. Matthew nickte. Ich schluckte die Tablette und spülte sie mit Wasser herunter. Bevor er aus der Tür lief, rief ich ihm nach: "Ich meine es ernst. Ich bin dir dankbar." Er schaute zu mir zurück. Seine Miene war wie aus Stahl. "Das solltest du aber nicht." Er ließ den Satz allein mit mir im Raum, so viele unausgesprochene Dinge und so viel Schmerz. Ich rollte mich auf meiner Matratze zusammen und weinte leise in mich hinein. Irgendwann setzte die Wirkung der Tablette ein und riss mich mit in einen traumlosen Schlaf.

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