Kapitel 39

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Täglich grüßt beziehungsweise klopft das Murmeltier alias Matthew. Bei dem Gedanken musste ich kurz schmunzeln, dabei war mir danach gar nicht zu Mute. Ich gähnte und stand mühsam auf, denn eine schlaflose Nacht voller Fragen und Angst lag nun hinter mir. Schnell machte ich mich auf den Weg ins Bad, wusch mich und lief zurück, um mich anzukleiden. Ich trug meine Haare wieder in meinem üblichen geflochtenen Zopf, da die blauen Flecken an meinem Hals verblasst waren. Ich wusste, ich würde im Projekt heute eine Stunde mit Jonathan zusammen arbeiten. Darauf freute ich mich auch schon, jedoch war die Angst so groß, wie es heute früh wohl sein wird, dass ich kaum meinen Apfel auf dem Weg zur Schule verdrücken konnte. Meine Hände zitterten in der kalten Morgenluft und ich kuschelte mich in meine Jacke, so gut es ging. Matthew hatte gestern nichts mehr zu mir gesagt. Er hatte still das Abendessen verspeist und ist dann in seinem Zimmer verschwunden. Ich war wütend und traurig zugleich. Denn immer, wenn ich ihm mehr Vertrauen schenke und denke, es könnte sich etwas zwischen uns ändern, bekomme ich einen Schlag vor mein Gesicht und es ist alles wie bisher. Zum Glück war ich früh an der Schule, so konnte ich dem großen Ansturm von Schülern entgehen. Ich setzte mich also schon früh ins Klassenzimmer und las meinen Geschichtsaufsatz von gestern Abend Korrektur. Nach und nach kamen die ersten Schüler, die alle sofort zu tuscheln begannen, als sie mich sahen. Ich wusste, dass das dicke Pflaster auf meiner Stirn die Gerüchte, dass man mich zusammengeschlagen hatte, bestätigten. Das einzige Unklare ist, ob es etwas daran ändern könnte, wie sie mich behandeln, aber da ich schon das erste schadenfrohe Lachen vernahm, verwarf ich diesen Gedanken sofort wieder. Es war kurz vor Stundenbeginn und ich betete inständig, dass Mr. Kellington mich nicht vor der gesamten Klasse fragen würde, wie es mir geht. Doch noch war er nicht hier. Die Tür öffnete sich und Matthew kam mit Jonathan herein. Ich versuchte möglichst unauffällig zu ihnen zu schauen. Matthew lief voran. Von Chris fehlte jedoch jede Spur, weshalb er wohl wirklich im Krankenhaus oder zu Hause sein müsste. Jonathan kam hinter Matthew in der Tür zum Vorschein. Er trug einen dunkelblauen Pullover, den er an beiden Armen hoch gezogen hatte und eine schwarze Jeans. Seine Lederjacke hatte er lässig in der Hand. Seine Haare waren mal wieder perfekt gestylt. Plötzlich erwiderte er meinen Blick für wenige Sekunden und schenkte mir ein Lächeln. Unsicher bildete sich ebenfalls ein Lächeln auf meinen Lippen, dass er wahrnahm. Dann war er an mir vorbei und mein Herz beruhigte sich nur langsam. Was macht dieser Junge nur mit mir? Vielleicht war es sehr naiv, aber sein Lächeln erweckte in mir die Hoffnung, dass er es ernst meinte, dass er sich auch in der Schule anders verhalten würde. Im nächsten Moment kam Mr. Kellington herein. Zum Glück hatte er meine Gebete erhört und sprach mich nicht auf die Verletzung an, stattdessen begann er sofort engagiert mit dem Unterricht. Ich tauchte in die Geschichte ab und widmete mich so mit meinen Gedanken voll und ganz der beginnenden Industrialisierung in England. Ich wurde erst abgelenkt, als eine Papierkugel meine Hand traf. Erschrocken zuckte ich leicht zusammen. Sofort ergriff ich sie in der Hoffnung, dass es eine Nachricht von Jonathan sein könnte. "Ich habe später eine Überraschung für dich. Freue dich darauf.", las ich in meinen Gedanken. Tatsächlich war die Nachricht von Jonathan. Es war seine Handschrift. Doch was könnte es nur für eine Überraschung sein? Ich wollte nicht, dass er weiter Geld für mich ausgibt. Aber vielleicht war es ja gar keine Überraschung, die mit Geld zu tun hatte? Doch ich hatte auch keine Freizeit für eine Überraschung nach der Schule und er weiß, dass ich stets Mom besuche. Also was soll das für eine Überraschung sein? Die restliche Stunde konnte ich mich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, weil meine Gedanken sich nur um die mysteriöse Überraschung von Jonathan drehten. Ich seufzte, als es klingelte. Er hatte es mal wieder geschafft meine Gedanken zu beherrschen und ich hasste ihn dafür, dass ich durch ihn meine Kontrolle über meine Gedanken verliere. Wobei sich die Frage stellt, ob meine Gedanken nicht schon immer das gemacht haben, worauf sie Lust haben? Ich war stets ein stilles Kind. Ich liebte es in meine Gedanken abzutauchen. Das Tanzen gab mir immer die Möglichkeit meine Gedanken auch mal abzuschalten und das fehlte mir in letzter Zeit. Ich fühlte mich teils einfach ausgelaugt durch die Gedankenströme, die auf mich hinab prasselten. Als ich meine Hausaufgabe vorne bei Mr. Kellington abgab, wusste ich, dass er nun Zeit haben würde mich ins Kreuzfeuer zu nehmen. Jedoch hoffte ich inständig, dass er keine Fragen zum Protokoll und der Polizei hat. "Wie geht es dir, Abby?", fragte er fürsorglich, als ich meine Arbeit auf das Pult legte. "G-ganz g-gut." Er nickte und ergriff meine Arbeit. "Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Er möchte dich gerne sprechen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Er duldet kein Mobbing in dieser Schule noch gewaltsames Handeln gegenüber Mitschülern." Ich nickte und spürte, wie meine Finger vor Nervosität zitterten. "Abby, kam das schon öfter vor?", fragte er besorgt und setzte sich auf, um mich besser mustern zu können. "N-nein." Ich versuchte es überzeugend klingen zu lassen, aber ich wusste nicht, ob er mir glauben würde. Überprüfend scannte er förmlich mein Gesicht. Die Nervosität ließ mir mein Herz bis zum Hals schlagen. Die Angst schnürrte mir die Kehle zu. "Und du hast wirklich keine Ahnung, wer dich angegriffen hat?" Ich schüttelte mit dem Kopf, da ich meiner Stimme nicht mehr vertraute. "Okay.", seufzte Mr. Kellington und ließ seine Schultern sinken. "Ich möchte, dass du weißt, dass du dich an uns Lehrer wenden kannst. Wir können helfen." Ich nickte und spielte mit meinen Fingern, damit ihr Zittern unbemerkt bleibt. "Gut, dann kannst du zum Direktor." Mr. Kellington entließ mich etwas misstrauisch. Sofort eilte ich in den Flur und atmete erleichtert auf. Er hatte weder etwas zum Protokoll noch zur Polizei gefragt. Nun müsste ich dem Direktor nur nochmal dasselbe erzählen, wenn das nur so einfach wäre. Er könnte noch misstrauischer sein und mir nicht glauben. Es war schon ein Wunder, dass Mr. Kellington nicht weiter nachgefragt hat. Nervös lief ich zum Trakt, in dem die Verwaltung der Schule sitzt und suchte dort das Zimmer des Direktors. Ich war schon einmal hier mit meinem Onkel, als ich die Schule gewechselt hatte. Aber es kam mir vor, als sei dies schon eine Ewigkeit her. Damals schon hatte der Direktor mich merkwürdig beäugt und wollte mich am liebsten gleich zur Schulpsychologin schicken. Glücklicherweise hatte mein Onkel mich da herausgeredet in der Angst es könnte ihn Geld kosten und auch in der Angst, dass ich dort über seine gewaltsame Ader reden könnte. Vor der Tür des Direktors wünschte ich mir nichts sehnlichster als die Unterstützung von Jonathan. Doch ich könnte in der Schule nicht einfach zu ihm gehen und ihn fragen, nicht vor seinen Freunden. Also blieb mir nichts anderes übrig als mich allein dem Direktor zu stellen. Mit zitternder Hand klopfte ich an der Tür. "Herein.", brummte es aus dem Zimmer. Ängstlich betrat ich den Raum. Der alte Direktor mit dickem Schnurrbart hinter dem großen schwarzen Schreibtisch vermochte es Macht auszustrahlen. "Abby Trainer, ich habe Sie schon erwartet. Setzen Sie sich." Ich nickte, schloss die Tür hinter mir und setzte mich unsicher auf einen der beiden Stühle. "Mr. Kellington hat mich über die schrecklichen Ereignisse nach dem Footballspiel in der Schule in Kenntnis gesetzt. Ich hoffe, Ihr Zustand hat sich gebessert und Sie sind nicht allzu schlimm verletzt." Seine tiefe Stimme konnte einem vor Angst einen kalten Schauer den Rücken herunter laufen lassen. "Nein, ich hatte nur eine Platzwunde und mir geht es schon wieder besser.", stotterte ich eingeschüchtert. In meinen Gedanken ging ich tausende von Sätzen und Lügen durch, um eine zu finden, die logisch und überzeugend klingt. "Trotzdem sollten wir diese Verletzung nicht herunter spielen." Ich nickte unsicher. "Ich habe einige Fragen an Sie zu dem Abend." Plötzlich klopfte es und die Tür ging auf. "Endlich Mr. Parker, wie immer zu spät, aber zumindest sind Sie gekommen." Ich drehte mich um und sah in die eisblauen Augen von Jonathan. Sofort konnte ich mich etwas entspannen. "Entschuldigung, ich wurde im Flur aufgehalten.", sagte Jonathan genervt und schloss die Tür hinter sich. "Ja ja, setzen Sie sich. Mr. Kellington berichtete, Sie haben Abby mit ihm zusammen ins Krankenhaus gefahren?" Jonathan setzte sich auf den Stuhl neben mich und schenkte mir kurz ein beruhigenden Blick und ein Lächeln, bevor er sich dem Direktor zu wendete. "Das stimmt."

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