Kapitel 77

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Aufgeregt und aufgeladen von Kopf bis Fuß mit Nervosität hatte ich mich schon zehn Minuten eher von Mom verabschiedet und stand nun auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus. Ich hielt bereits Ausschau nach Jonathan, doch bisher gab es noch keine Spur von seinem Auto noch von ihm. Hibbelig tippte ich immer wieder mit meinem rechten Fuß auf den Boden. Meine Jacke hatte ich enger um mich geschlungen, weil der starke Wind in die Ritzen meiner Kleidung zog. Ich schaute bei jedem Motorgeräusch hoffnungsvoll auf die Auffahrt zum Krankenhausparkplatz, doch keins dieser Autos gehörte Jonathan. Was ist, wenn er nicht kommt? Was ist, wenn er sauer ist wegen der Situation in der Schule mit Anthony? Oder war das hier eine Art und Form der Rache? Er hatte mir unheimliche Hoffnung gemacht und nun stand ich hier und er könnte mich endlos warten lassen. Minuten vergingen. Ich fröstelte weiter vor mich hin, aber bewegte mich nicht von der Stelle. Immer wieder redete ich gegen den aufkommenden Gedanken an, dass er nicht kommen würde. Ich versicherte mir selbst tausend mal, dass er es doch tun würde, aber er kam nicht. Es war schon eine Stunde vergangen und mir war bewusst, dass mich zu Hause großer Ärger erwartete, aber ich konnte doch noch nicht die Hoffnung aufgeben. Er kann mich doch hier nicht einfach stehen lassen. Verzweiflung übermannte mich mit der Zeit, während die Kälte bis in mein Herz vordrang. Mir war so kalt, dass meine Fingerspitzen mittlerweile blau anliefen. Meine Zähne klapperten leise zur grausigen Melodie des eisigen Windes. Doch plötzlich kurz bevor ich all meine Hoffnung verlor, erblickte ich eine Gestalt in der aufkommenden Dunkelheit. Sie war noch weit entfernt, aber die Silhouette ähnelte Jonathan. War er etwa zu Fuß hier her auf dem Weg? Wo war sein Auto? Mein Herz begann wild zu pochen und meine Füße liefen los, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte. So näher ich der Gestalt kam, desto sicherer war ich mir, dass es sich um Jonathan handelte. Er schaute angestrengt auf sein Handy beim Laufen, so hatte er mich noch gar nicht wahrgenommen. Zielstrebig eilte ich auf ihn zu. Meine Muskeln schmerzten durch die Kälte, aber das versuchte ich zu ignorieren. Kurz bevor ich bei ihm war, ergriff ich das Wort: "J-jonathan?" Verwirrt sah er auf. Unsere Blicke trafen sich und er blieb abrupt stehen. Er zog seine Augenbrauen zusammen, als würde er gerade angestrengt nachdenken. "Abby, was machst du hier?" Seine Stimme klang weder vorwurfsvoll noch wütend. Nein, Jonathan schien total überrascht zu sein. Nun war ich die Person, die ihn mehr als irritiert ansah. "Wir wollten uns doch vor dem Krankenhaus treffen.", nuschelte ich verunsichert. "Was?" Er lief auf mich zu und musterte mich besorgt. "W-weißt du es n-nicht m-mehr?" Mein Herz wurde schwer und meine Hoffnungen sanken zurück auf ein Minimum. Noch immer verwirrt schaute er mir in die Augen. "Du hast mich Mittwoch angerufen und ich habe dich gefragt, ob ich dir alles erklären kann. Du hast zugestimmt und vorgeschlagen, dass wir uns heute vor dem Krankenhaus treffen.", erklärte ich unsicher stotternd. "Wann habe ich dich angerufen?" Seine Gesichtszüge zeigten, dass durch seine Gedanken ein riesiges Fragezeichen flog. "Es war schon sehr spät.", gab ich zu. Plötzlich wandte er seinen Blick von mir ab und schaute auf sein Handy. Dann griff er sich durch die Haare. "Ich war sehr betrunken, Abby. Es tut mir leid, ich weiß rein gar nichts mehr von unserem Gespräch.", gab er beschämt preis. Würde dies denn etwas ändern? Würde er mich nun nicht mehr anhören? Hatte ich nun keine Chance mich zu erklären? Hatte er dem Treffen nur zugestimmt, weil er benebelt durch den Alkohol von Sinnen war? "D-du w-weißt n-nichts mehr?" Meine Stimme war kaum zu vernehmen, weil meine aufkommenden Sorgen mir die Kehle zu schnürrten. Er sah mich zu meiner Überraschung schuldbewusst an. "Nein, ich weiß es nicht mehr, aber dein Name steht auf der Anruferliste, also werde ich angerufen haben. Es tut mir leid, dass du auf mich gewartet hast." Jonathan klang ziemlich unsicher. Sein Blick wanderte an mir herab und wieder hinauf zu meinen Augen. Sorge spiegelte sich in ihnen. "Standest du die ganze Zeit hier in der Kälte?" Ich nickte zaghaft. "Du hast gewartet, obwohl du um sechs Uhr zu Hause sein musstest?" Ich nickte erneut und mir wurde noch einmal bewusst, wie schwerwiegend die Entscheidung zu warten ausfallen könnte. Vielleicht würde ich es noch bereuen, wenn ich die Folgen meiner Entscheidung am eigenen Leib spüre. "Abby, wieso bringst du dich wegen mir in Gefahr?", fragte er entsetzt, nachdem ihm scheinbar die Tragweite meiner Entscheidung bewusst wurde. "W-weil ich d-dir alles erklären m-möchte. Ich h-halte d-diese Stille zwischen uns einfach n-nicht m-mehr aus.", gab ich offen preis in der Hoffnung, dass er mir nun eine Möglichkeit einräumt mein Verhalten zu erläutern. "Abby.", seufzte er verzweifelt und fuhr sich durch die Haare. "Bitte Jonathan, lass mich alles erklären. Bitte gib mir diese Chance. Es ist alles meine Schuld, dass es an dem Abend so gekommen ist." Ich holte kurz Luft um weiter zu reden, doch Jonathan unterbrach mich. "Abby nicht hier, du erfrierst gleich. Du musst ins Warme. Außerdem sind wir gleich nicht mehr ungestört. Mein Wagen ist zur Inspektion in der Werkstatt. Steve muss mich mitnehmen." Als er den Namen seines Stiefvaters nannte, leuchtete reißende Wut in seinen Augen auf und ich wurde das Gefühl nicht los, dass Jonathan bereits wusste, dass Steve vorhatte ihn auf ein Internat zu schicken. "Hallo Jonathan.", tönte es plötzlich hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Jonathan hatte Recht. Wir waren nicht länger allein. Steve musterte mich verwirrt, während ich es nicht verhindern konnte, dass sich ein vorwurfsvoller Blick auf mein Gesicht legte. "Hallo Steve.", knurrte Jonathan. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich näher zu Jonathan gerückt war. Dieser legte plötzlich sanft seine Hand auf meinen Rücken. "Können wir Abby nach Hause bringen? Es ist kein weiter Umweg. Sie hat ihren Bus verpasst.", log Jonathan Steve gekonnt ins Gesicht. Schnell nickte ich, um seine Aussage zu bekräftigen. Steve seufzte leicht genervt und ich wusste, dass er mich nur ungern mitnehmen wird. Zwar war die Aussicht auf eine unangenehme Autofahrt mit Jonathan und seinem Stiefvater nicht wirklich erfreulich, aber ich wollte unbedingt noch etwas die Zeit mit Jonathan genießen. Auch, wenn das bedeutete, dass ich noch mit meiner Erklärung für Jonathan warten müsste. "Na gut, dann kommt.", gab er nach. Zuvor hatten sich Jonathan und Steve ein Blickduell geliefert. Um die beiden herum, konnte man förmlich die aufgehitzte Spannung spüren und ich würde nun mit beiden im Auto sitzen. Steve setzte sich in Bewegung und wir folgten ihm stumm. Noch immer lag Jonathans Hand sanft an meinem Rücken. Ich genoss diese kleine Berührung, denn sie gab mir so viel Hoffnung zurück. Beim Sportwagen von Dr. Brenigan angekommen, öffnete Jonathan mir die Tür und stieg hinten zu mir auf die Rückbank. Es war unendlich still auf der Autofahrt. Bis auf, dass Jonathan Steve meine Adresse nannte, wurde kein Wort gewechselt. Angespannt saß ich im Auto. Ich wusste, dass Jonathan vor Steve nicht über persönliche Angelegenheiten sprechen wird. Dass nicht einmal das Radio ertönte, machte diese Autofahrt erdrückend still. Man wagte es kaum zu atmen geschweige denn sich zu bewegen. Unsicher schaute ich schon die gesamte Fahrt über auf meinen Schoß bis plötzlich Jonathan meine Hand ergriff. Schlagartig fuhr mein Blick zur Seite zu ihm. Seine eisblauen Augen sahen mich zu meiner großen Erleichterung mit viel Wärme an. Sanft drückte er kurz meine Hand. Dann nickte er mir zu und ein kleines zaghaftes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Ich wusste, dass er mich anhören würde. Vielleicht war der Tag nicht heute, aber er gab mir eine Chance mich zu erklären. Mein Herz begann wie wild zu pochen und ich konnte es nicht verhindern, dass sich ein riesiges Strahlen auf mein Gesicht legte. Plötzlich wurden wir langsamer und Steve fuhr rechts heran. Wir waren da. "Auf W-wiedersehen Dr. B-brenigan und d-danke, d-dass sie m-mich nach Hause g-gefahren h-haben." Er erwiderte nichts, also drehte ich mich zu Jonathan. "Kommst du auf die Gala morgen?", fragte ich stotternd. Er nickte und fragte recht fordernd: "Schreibst du mir?" "J-ja, auf W-wiedersehen Jonathan.", antwortete ich lächelnd. "Auf Wiedersehen, Abby.", sagte er und zwinkerte mir zu. Schnell stand ich auf und stieg aus, um die Geduld von Steve nicht zu über reizen. Als ich langsam zur Tür meines Zuhauses lief, hörte ich die Motorgeräusche des Auto in der Dunkelheit verhallen. Angst stieg in mir auf, denn ich wusste nun würde ich Ärger bekommen...

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