Kapitel 25

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Im Krankenhaus bei Mom musste ich mich erst einmal beruhigen. Heute war so viel auf einmal. Erst lacht Jonathan mich aus, während Chris mich malträtiert, um dann einfach in der Mittagspause mein Essen zu bezahlen. Dann entdeckt er die blauen Flecken an meinem Hals und ist zugleich unglaublich fürsorglich und lieb, nur um dann gerade im Auto wieder auszurasten. Dieser Junge machte mich auf so verschiedene Arten verrückt, so dass ich ihn gleichzeitig hassen und mögen kann. Bei Mom machte ich meine Aufgaben und erzählte ihr von meinem Tag. Meine Erzählung entsprach so gar nicht der Wirklichkeit im Nachhinein betrachtet, da ich alles was Jonathan betraf einfach nicht erwähnte, obwohl ich mir so sehnlichst ihren Rat diesbezüglich wünschte. Dr. Brenigan kam auch kurz herein und fragte nach meinem Wohlbefinden. Ich antwortete ihr höflich, war aber insgesamt nun zurückhaltender gegenüber ihr. Schließlich wusste ich nun, dass sie Jonathans Mutter ist und Vetrauen und ich sind einfach keine guten Freunde. Zu oft habe ich schlechte Erfahrungen gemacht, wenn ich jemandem vertraut habe. Immer wurde ich verletzt oder gedemütigt, deshalb bereitet es mir auch so große Sorge, dass mein Verstand und mein Körper Jonathan immer wieder blind Vertrauen schenkten. Natürlich hatte er es sich durch sein Verhalten der letzten Tage auch verdient, aber eigentlich ist es purer Wahnsinn, dass ich ihm mit unserer Vergangenheit überhaupt ein Fünkchen Vertrauen schenke. Tief in Gedanken hatte ich fast nicht bemerkt, dass die Besucherzeit sich dem Ende neigte. Schnell packte ich meine Sachen zusammen und verabschiedete mich von Mom. Mit einem letzten Blick zu ihr wandte ich mich ab und lief durch die langen kalten Flure des Krankenhauses. Im Erdgeschoss angekommen, wollte ich gerade aus dem Haupteingang gehen, als ich einen viel zu bekannten Audi auf demselben Parkplatz wie noch vor zwei Stunden erkannte. Ohne nachzudenken machten meine Füße kehrt und ich lief zum Nebenausgang. Ich wollte nicht auf ihn treffen, denn er würde wieder fragen und ich hätte noch immer keine Antwort. Also fühlte ich mich den gesamten Heimweg über paranoid, da ich mich ständig nach seinem Auto umsah und dabei versuchte an alles zu denken, was mir vor die Nase kam, nur um nicht an ihn denken zu müssen. Viel zu oft schlich er sich in den letzten Tagen in meine Gedanken und geisterte in ihnen herum. Dieser Junge war mir einfach ein Rätsel und die vielen unterschiedlichen Gefühle, die er in mir hervor rief, auch. Ich seufzte und versuchte meine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass es immer früher dunkler wird. Für den Winter müsste ich mir echt etwas einfallen lassen. Es war jetzt schon sehr dunkel und das erhöhte so nur meine Paranoia und Angst. Ich wollte in diesem Viertel nicht bei Nacht draußen sein. In keinem Viertel der Stadt ist die Kriminalitätsrate so hoch wie hier und ich wollte nun wirklich nicht, dass mir noch mehr passiert. Vor allem weil hier auf den schlecht beleuchteten schummrigen Straßen und einsamen Ecken noch viel schlimmere Gefahren lauern könnten als zu Hause. Meine Schritte wurden immer schneller, während meine innere Stimme mich dafür verurteilte vor Jonathan weggelaufen zu sein. Ich versuchte dieses schlechte Gewissen den ganzen Rückweg schon herunter zu schlucken, aber es wurde immer lauter, desto mehr Angst ich bekam. Er hätte mich bestimmt gefahren, denn alleine bei der Dunkelheit hätte er mich nicht gehen lassen. Anders herum hätte er mich nicht ganz bis nach Hause fahren können, damit er nicht weiß, dass ich mit Matthew unter einem Dach wohne. Frustriert und erleichtert kam ich zu Hause an, zog meine Schuhe aus und begann Essen zu kochen. Heute kochte ich wieder aus den letzten Resten etwas hoffentlich genießbares. Der Kühlschrank war leer, selbst der Alkohol war knapp. Es ist Monatsende und wahrscheinlich war mal wieder alles Geld aufgebraucht. Ich war glücklich, als ich feststellte, dass das Essen kochen mich etwas ablenkte. Mein Onkel und Matthew waren beide noch nicht zu Hause. Also deckte ich den Tisch und ließ das Essen bei niedriger Temperatur auf dem Herd. Es war meine Chance mich in mein Zimmer zu schleichen. Also nahm ich mir meine kleine Portion und machte mich leise schnurstracks auf den Weg in mein Zimmer. Während dem Essen musste ich immer wieder an seinen gequälten Ausdruck im Auto und in der Schule denken. Es war, als würde er selbst Schmerz empfinden, wenn er an meine Verletzungen dachte, als würde er nicht wollen, dass mir jemand weh tat. Ich seufzte frustriert und fuhr mir durch die Haare. Dieses Gefühl gedanklich nicht von ihm los zu kommen, brachte mich fast zur vollkommenden Verzweiflung. Also wanderte mein Blick suchend durch mein Zimmer. Was könnte mich ablenken? Meine Augen fixierten die schräge alte Kommode und sofort war ich von der Matratze aus zu ihr herüber gekrabbelt. Ich löste das lockere Brett unterhalb der letzten Schublade und zog meine Erinnerungsbox hervor. Sofort zierte mein Gesicht ein trauriges Lächeln. Zaghaft und bedacht öffneten meine Finger ganz langsam die Box. Ihr Inhalt war mein kostbarster Besitz, kein Geld der Welt könnte sie ersetzen, denn darin versteckt waren alle meine Erinnerungen an meine Eltern und mein früheres Leben. Sofort bildeten sich Tränen in meinen Augen, als ich die ersten Fotos von meinen Eltern und mir in den Händen hielt. Auf jedem Bild sahen wir so glücklich aus und meine Eltern strahlten mich stets stolz und voller Freude am Leben an. Sie fehlten mir beide so unendlich. Ich drückte die Fotos gegen mein Herz und suchte damit ihre Nähe, doch die blieb mir verwehrt. Als nächstes ergriff ich meine ersten Tanzschuhe. Ich hatte schon früh mit Ballett begonnen. Die Schuhe waren winzig. Auch meine letzten Tanzschuhe lagen daneben. Ich hatte verschiedene Tanzkurse, doch mein Herz schlug für Ballett und Modern Dance. Darunter befand sich ein Foto von mir beim Tanzen und eins von den Mädchen und mir vom Tanzverein. Wir strahlten alle in die Kamera und hielten unsere kleinen Medaillein hoch. Damals hatten wir unseren ersten Wettkampf gewonnen. Ich strich mir sanft einmal über das Gesicht, um die vielen Tränen fort zu wischen. Ein paar von ihnen waren bereits auf den Boden und meine Hose getropft. Ein Poltern ließ mich hochschrecken. Schnell packte ich alles zusammen und versteckte es wieder in dem geheimen Fach der Kommode. Niemand sollte von der Kiste wissen, nachher würde mein Onkel versuchen sie als Druckmittel zu verwenden oder er würde sie einfach zerstören. Leise schlich ich zur Tür, öffnete sie einen Spalt und lugte hinaus in den dunklen Flur. Im Bad brannte Licht und ich hörte ein leises Fluchen. Schnell und leicht wie eine Feder tippelte ich zum Bad und fand Matthew verletzt vor dem Spiegel stehen. Er taumelte etwas, was darauf hindeutete, dass er betrunken war. Ohne nachzudenken schloss ich die Tür hinter mir und eilte zu ihm. Verdutzt schaute er mich an, aber ich sagte nichts. Ich half ihm sich hinzusetzen und begann seine Wunden zu säubern und zu verarzten. Unten hatte es in den letzten zwei Stunden kaum Geräusche gegeben, sodass ich zu dem erschreckenden Schluss kam, dass Matthew nicht von seinem Vater geschlagen wurde, vor allem da dieser meist nicht ins Gesicht schlug, um Vermutungen von sich zu weisen, dass er uns schlug. Matthew zischte immer wieder leise vor Schmerz auf und beobachtete jeden meiner Schritte mit seinen intensiven grünen Augen. Als er versorgt war, half ich ihm auf. Er schwankte etwas, weshalb ich mich dazu entschied ihn weiter zu stützen. Wir stolperten so leise wie möglich in sein Zimmer. Er setzte sich auf sein Bett und sah mich noch immer an. "Abby, warum bist du so gut?", fragte er lallend. Verwirrt sah ich ihn an. "Du hilfst mir, obwohl ich dir immer nur Leid zu füge." "W-was ist p-passiert?", traute ich mich nun endlich zu fragen und ignorierte somit seine vorherige Aussage. "Jonathan und ich sind da in etwas rein geraten. Mach dir keine Gedanken.", wiegelte er ab. Jonathan und er? Gott, war Jonathan auch so verletzt? Wer hat die beiden so verletzt? In was sind die beiden rein geraten? "Abby, ich sehe deinen Kopf vor Gedanken fast explodieren.", sagte er lachend. "Uns geht es beiden gut, mach dir keine Gedanken." Etwas erleichtert atmete ich auf. Doch wenn dieser Zustand Matthews Definition von gut gehen ist, machte ich mir trotzdem zu meinem Erschrecken ziemliche Sorgen um Jonathan. Matthew war es vielleicht, so schlimm es auch klingt, gewöhnt geschlagen zu werden, doch bei Jonathan bezweifle ich dies stark. Als ich nach meinem Gedankensturm zurück zu Matthew sah, lag er schnarchend auf seinem Bett. Also deckte ich ihn zu und schlich zurück in mein Zimmer. Doch ich konnte nicht so einfach einschlafen. Meine Sorgen und Gedanken waren noch immer bei Jonathan und mein schlechtes Gewissen vor ihm weg gerannt zu sein wuchs von Sekunde zu Sekunde. Wäre ich nach dem Krankenhaus zu ihm gegangen, wäre er vielleicht nicht mit Matthew irgendwo rein geraten. Was das auch immer bedeutet? Frustriert wälzte ich mich die ganze Nacht von meinen Gedanken geplagt hin und her. Wie sollte ich nur morgen den Tag überstehen? Und wie sollte ich mich Jonathan gegenüber verhalten?

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