Kapitel 32

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Jonathan hielt noch immer meine Hand, als wir den Behandlungsraum verließen. Er führte mich durch die langen Gänge des Krankenhauses zum Kiosk, in dem zu unserer großen Überraschung Mr. Kellington mit Susan saß und mit ihr flirtete. Susans Wangen leuchteten rosa und auf ihren Lippen lag ein breites Lächeln. Dasselbe Lächeln zierte auch Mr. Kellingtons Gesicht und seine Augen leuchteten. Unsicher schaute ich zu Jonathan. "Sollen wir die beiden wirklich stören?", stotterte ich. "Natürlich, ich will nach Hause und du solltest dich ausruhen können.", sagte Jonathan ohne Empathie für Mr. Kellington, der sich scheinbar gerade verliebte. Also klopfte Jonathan an der Tür und ließ die beiden aufschrecken. "Jonathan? Abby? Seid ihr schon fertig?", fragte Mr. Kellington und versuchte so seine peinliche Berührtheit zu überspielen. Der Versuch war kläglich, aber ich musste gestehen, dass die Szene vor uns sehr süß war. Ich würde mich für Mr. Kellington freuen, wenn er sein Glück getroffen hätte. "Ja alles nach Protokoll. Ich möchte Abby jetzt nach Hause bringen, ihr Onkel ist informiert. Sollen wir Sie zur Schule fahren?", fragte Jonathan höflich und ging so das Wagnis ein, dass Mr. Kellington herausfinden könnte, dass es alles andere als nach Protokoll lief. Jedoch musste ich zugeben, dass Mr. Kellington gerade wirklich sehr abgelenkt wirkte, weshalb die Chance für weitere Nachfragen gering schien. "Ich kann dich auch fahren. Schließlich habe ich seit einer halben Stunde Feierabend.", warf Susan ein, die wohl noch mehr Zeit mit Mr. Kellington verbringen wollte. Der drehte sich wiederum glücklich zu Susan und äußerte sofort seine Euphorie für diesen Plan. Ich musste schmunzeln. Nach dem wir uns von den beiden verabschiedet haben, liefen Jonathan und ich leise zu seinem Auto. Die Stille zwischen uns war nicht wie die letzten Tage entspannt und sanft, nein, sie war dick und erdrückend. Ich wusste, er würde einige Fragen haben, vor denen ich mich jetzt schon fürchtete. Mr. Kellington hatte das Protokoll nach dem Gespräch mit Susan total vergessen zu meiner großen Erleichterung. Jonathan schloss das Auto auf und öffnete mir die Tür. Dankend setzte ich mich herein. Mir war noch immer etwas schwindelig, aber durch die Schmerztablette von Dr. Brenigan ging es mir schon ein bisschen besser. Ich klappte den Spiegel herunter und musterte mich kurz in ihm. In meinen Haaren klebte noch Blut und mein Oberteil hatte große rote Flecken. Auf meiner Stirn klebte nun ein dickes verbandartiges Pflaster, darunter verbarg sich die genähte Wunde. Meine Augen sahen müde und ausgelaugt aus und so fühlte ich mich auch. Jonathan setzte sich ans Steuer und ich klappte schnell den Spiegel zurück. Besorgt musterte er mich noch einmal, bevor er  den Wagen zündete und aus der Parklücke fuhr. "Ich weiß, dass du gesehen hast, wer dich verletzt hat und ich kann mir schon fast denken, wer die beiden Personen waren. Bitte, sag es mir, ich will es wissen. Du kennst mich, wem sollte ich es sagen. Ich renne damit bestimmt nicht zu Mr. Kellington oder dem Direktor.", er sagte es ziemlich ernst und doch ließ mich gerade sein letzter Satz in der Vorstellung schmunzeln. Irritiert sah er mich kurz an, dann fixierte er erneut die Straße. Er hat recht, wem sollte er es sagen. Ich wusste und war mir sicher, dass er es niemals einer Lehrperson erzählen würde. Jedoch wusste ich nicht, wie er reagiert, wenn ich seine Freunde beschuldige. Na ja, was heißt beschuldigen, schließlich ist es Fakt, dass sie es waren, aber bis auf mir kann es keiner bezeugen. "C-chris und M-melania." Meine Stimme klang heiser und sehr leise. Sie war kaum hörbar im Auto, aber ich wusste, dass er es verstanden hatte, denn sein Kiefer spannte sich an und er umklammerte das Lenkrad stärker. "Wieso lässt du dir das gefallen?", fragte er wütend und erschreckte mich durch seinen harschen Tonfall. "Vielleicht ist Chris viel stärker als ich.", stotterte ich. Er nickte und sah noch immer sehr wütend aus, aber wer sollte es ihm verübeln. Ich wäre auch sauer, wenn jemand einem Menschen weh tut, der mir am Herzen liegt. Liege ich ihm denn am Herzen? Wenn nicht, würde er das doch nicht alles für mich tun oder? "Warum durften wir deinen Onkel nicht informieren?" Ich blieb still, denn ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte, denn die Wahrheit kann ich nicht sagen. Ich wusste die Stille meinerseits könnte genauso viel verraten, jedoch hätte ich es mit Worten nicht bestätigt. Meine Finger zitterten vor Nervosität und mir war bewusst, dass ich ihm eine Antwort schuldig war, nachdem heutigen Tag und generell allem, was er bereits für mich getan hat. "Es hätte Ärger gegeben, denn er weiß nicht, dass ich zum Spiel gegangen bin. Ich habe ihn nicht mehr gefragt, weil er gesagt hat, dass er einen Freund besucht.", erklärte ich stotternd und hoffte, dass ihm die halbe Wahrheit genügen würde. Auf Jonathans Lippen legte sich ein Lächeln  und seine Gesichtszüge wurden weicher. "Danke, dass du es mir gesagt hast." "Danke, dass du deine Mom überzeugen konntest ihn nicht zu informieren." "Kein Problem.", sagte er glücklich und bog auf eine riesige Auffahrt. Er drückte einen Knopf und zuerst öffnete sich ein Tor und wenige Sekunden später die Garage. Wir fuhren zu einem großen wunderschönen Landhaus. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir nun außerhalb der Stadt waren, denn durch die Schnellstraße war man wirklich in wenigen Minuten hier. Ich staunte nicht schlecht. Seine Eltern müssten reich sein. Mein Mund war aufgeklappt und meine Augen riesig. Es war so schön. Jonathan fuhr in die Garage, in der noch drei weitere Autos standen. Doch ich hatte keine Zeit sie zu mustern, denn Jonathan war schon ausgestiegen und hielt mir nun die Tür auf. "Euer Haus ist wunderschön.", sagte ich noch immer ganz erstaunt. "Warte bis du es drinnen siehst, Mom hat alles erst renovieren lassen.", sagte er glücklich und ergriff meine Hand, um mich durch eine Tür in die Eingangshalle des Hauses zu führen. Ich blieb stehen und schaute mich um. Die Halle war groß und hell, überall standen Blumen und Bilderrahmen. Die Möbel waren in warmen Holztönen gehalten. An der Decke hang ein kleiner Kronleuchter, der im Winter die Halle mit Licht durchströmen lässt. Die Atmosphäre war herzlich, warm und familiär. Es schien wie ein Ort, um sich automatisch wohlzufühlen. Es ist ein zu Hause. Mir fehlt mein zu Hause so unheimlich, denn nun wohnte ich in einem Haus voller Trauer, Wut und Gewalt. Ich zog meine kaputten Schuhe aus und stellte sie neben Jonathans. Er hatte seine bereits ausgezogen und seine Sporttasche weggebracht. Nun stand er erwartungsvoll vor mir. "Komm ich zeig dir mein Zimmer und mein Bad. Dann kannst du duschen und dich frisch machen." Ich nickte und musste mir eingestehen, dass ich unheimlich neugierig war, wie wohl sein Zimmer aussehen würde. Während wir durch die Flure des Hauses liefen, sah ich mir die Gemälde und Fotos an den Wänden an. Ich kam kaum aus dem Staunen heraus. Auf allen Fotos sah seine Familie so glücklich aus. So sahen Mom, Dad und ich auch schon mal aus, doch ist das lange vergangen. Wir blieben vor einer braunen Holztür stehen. Mein Herz pochte aufgeregt in meiner Brust und ich atmete gespannt ein. Jonathan öffnete ohne zu zögern die Tür und vor uns lag sein Zimmer. Es war unheimlich groß. Die Wände waren weiß und plakatiert mit Bildern. Ich erkannte sofort den Malstil und wusste, dass all diese Bilder von ihm waren. Mein Herz setzte aus, als ich die vielen Skizzen, Zeichnungen und Malereien sah. Er hatte so viel Talent. Eine der weißen Wände zierte ein Grafitti. Es zeigte eine Brücke, die nie aufzuhören schien zwischen den Wolken. In der Mitte des Zimmers stand ein großes Bett. In der rechten Ecke war der große Schreibtischbereich und meiner Vermutung nach auch sein künstlerischer Bereich. In der linken Ecke stand ein Sofa, ein Fernseher, ein Tisch und ein Plattenspieler. An der Wand hing ein großes Regal, in dem sich eine riesige Musiksammlung aus Platten, CDs und Kasetten stapelte. Mein Staunen schien nicht zu enden. Er hatte so ein schönes Zimmer. Zwei weitere Türen waren in seinem Raum. Ich vermutete, eine würde zum begehbaren Kleiderschrank führen, da keiner im Zimmer auszumachen war und die andere würde vermutlich in sein Bad führen. "Dein Zimmer ist wirklich unglaublich.", stotterte ich sprachlos. Er grinste mich jedoch nur schief an und lief zu einer der Türen. Jonathan verschwand hinter der Tür und ließ mich verwirrt zurück.

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