Kapitel 45

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Im Auto herrschte eine erdrückende Stille. Jonathan gab kein Wort von sich. Ruhig fuhr er auf die Schnellstraße und ließ mich so allein mit meinen Gedanken. Mit meinem rechten Pulloverärmel wischte ich mir vereinzelte Tränen fort, bevor ich mir erneut das Taschentuch an meine noch leicht blutende Lippe hielt. Das Radio war aus, man hörte nur das leise Brummen des Motors. Ich war noch immer sehr müde, aber das Gefühlschaos hielt mich wach. Es brachte mich um den Verstand, dass er nicht mit mir sprach, dass ich nicht wusste, was er denkt. Hat er nun gesehen, dass ich Schmerzen habe? Könnte ich meine Verletzungen vor ihm verstecken? Ist er immer noch sauer, dass ich mich gestern Abend nicht mehr bei ihm gemeldet habe? Oder ist es etwas ganz anderes? Was ist, wenn Matthew ihm etwas erzählt hat? Nein, das kann nicht sein. Ängstlich schaute ich auf meinen Schoß und versuchte meine Gedanken zu sortieren bis Jonathan plötzlich langsamer wurde. Dann hielt der Wagen und als ich aufsah, standen wir vor seinem zu Hause. Jonathan stieg aus und ich tat es ihm gleich. Er schloss die Tür zum Haus auf und wir gingen hinein. Schnell zog ich meine Schuhe aus, denn er war schon auf dem Weg nach oben. Sein Verhalten verwirrte mich immer mehr. Warum redet er denn nicht einfach mit mir? Ich eilte ihm, so gut es ging, hinter her bis zu seinem Zimmer. Dort saß er bereits auf seinem Bett. Seine Schuhe lagen davor. Noch immer irritiert und unsicher stand ich in der Tür. Er schaute mich auffordernd an und klopfte nun auf das Bett. Also schloss ich die Tür hinter mir und lief zu seinem Bett, um mich gegenüber von ihn zu setzen. Unsicher schaute ich auf meine Hände. Will er mir jetzt sagen, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will? Was will er mit seinem Verhalten bezwecken? Ich verstehe das einfach nicht. Sanft legte sich sein Zeigefinger unter mein Kinn und hob es an. Meine braunen Augen trafen auf das Eisblau seiner Augen. Mitfühlend sah er mich an. Die Wut war seinem Blick entwichen. "Jetzt erzähle mal, was ist gestern passiert?" Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und schaute zurück auf meinen Schoß. "Ich bin gefallen und habe mir meine Hand angebrochen.", stotterte ich ängstlich. "Was?", fragte er besorgt. "Es, es ist ge-geschient und m-muss nicht operiert w-werden." "Abby, warum kannst du mich nicht ansehen?", fragte er und klang traurig. "Weil ich mich schäme.", gab ich zu und sah nun auf. Nachdenklich zog er seine Augenbrauen zusammen. Vorsichtig legte er seine Hände an meinen linken Pulloverärmel und krempelte ihn hoch. Die Schiene wurde nun für ihn sichtbar und kam hinter dem Versteck des Pullovers hervor. Zu meinem Erschrecken machte er dasselbe auch rechts und zum Vorschein kam meine blau lilane Hand. "Abby.", murmelte er schmerzerfüllt. Er zog den Ärmel noch höher und legte so auch meinen Arm frei. "Scheiße, Abby! Und ich war sauer, dass du dich nicht gemeldet hast. Gott, bin ich dumm." Ich sah ihn an, wie er mit sich haderte und fühlte mich nur noch schlechter. "Du wurdest verprügelt und ich bin sauer auf dich. Dabei hätte ich da sein müssen und dich beschützen müssen." Seine Stimme war gepresst und sein Kiefer vor Wut angespannt. Unsicher kratzte ich meinen Mut zusammen und legte meine kleine Hand an seine Wange. Überrascht sah er mich an. "Du, du k-konntest es n-nicht wissen." "Das ist keine Entschuldigung, Abby.", sagte er aufgebracht und fuhr sich durch die Haare. Ich war noch immer geschockt, dass er mir gar nicht mehr geglaubt hatte, dass ich gefallen war. Ich wusste nicht, wie rasend wütend ihn die Tatsache machen könnte und das machte mir Angst. Zudem hatte ich Angst, dass er wieder fragen würde, wer mich verletzt hat, denn ich könnte ihm noch immer nicht darauf antworten. Tränen vor Angst und Verzweiflung sammelten sich in meinen Augen. Ich schämte mich so sehr dafür, dass er mich so verletzt sah, dass er all die Flecken nun kannte und sah wie schwach und zerbrechlich ich war. "Wieso schämst du dich so?" "W-weil ich n-nicht stark g-genug bin m-mich zu wehren.", gab ich leise zu und schaute auf in seine Augen. "Abby nein, die Person, die dir das antut sollte sich schämen. Keiner sollte jemanden verprügeln der Schutz braucht und niemand der schwächer ist als man selbst." Ich wusste nicht wieso, aber bei seinen Worten bildete sich Wut in mir und ich rückte etwas zurück. "Abby, was?", fragte Jonathan mehr als verwirrt. "Hörst du eigentlich die Ironie in deinen Worten? Man sollte niemanden weh tun, der schwächer ist als man selbst. Was hast du das ganze Jahr denn über gemacht oder Matthew oder Chris? Ihr habt mich verletzt, geschubst und gedemütigt vor allen anderen.", stotterte ich wütend und stand auf, um Richtung Flur zu gehen. "Abby, das war bevor...", doch ich ließ ihn nicht aussprechen. "Das war bevor, du meine Verletzungen gesehen hast. Weißt du, das ist eine super Ausrede, aber damit macht man das alles nicht ungeschehen. Die Narben bleiben und glaub mir, wenn ich sage, dass ich in den letzten fünf Monaten nur gelitten habe. Es gab Tage, wo mich nur die Hoffnung, dass Mom aufwachen könnte, am Leben gelassen haben." All diese aufgestauten Emotionen brachen einfach aus mir heraus. Ich konnte es nicht verhindern. Jonathan war wie ein Schlüssel zu der Truhe, in der ich meine Emotionen vor allen anderen versteckte. Nein, er ist eher wie ein Vorschlaghammer, der meine Mauern um mich herum einschlägt, denn es ist gewaltig, was er in mir auslöst und nicht mehr kontrollierbar. "Sag so etwas nicht!" "Was? Denkst du wirklich, ich hätte in meiner Situation nicht schon einmal darüber nachgedacht. Tot würde ich all diesen Schmerz nicht mehr Tag täglich ertragen müssen. Da würde ich nicht jeden Tag beleidigt werden, von allen gemieden werden und verletzt werden. Da würde mich niemand verprügeln, nur weil das Essen nicht pünktlich um sechs Uhr auf dem Tisch steht." Im nächsten Moment wurde mir klar, was ich gerade gesagt hatte und schlug mir erschrocken meine Hände vor den Mund. Jonathan war mittlerweile aufgestanden und stand circa einen Meter von mir entfernt. Auch er hatte seine Augen aufgerissen. Es war, als würde die Zeit für einen Moment stehen bleiben. Wir schauten uns beide geschockt an. Ich habe es indirekt gesagt. Wie dumm bin ich bitte? Ohne über meine nächste Handlung nachzudenken, rannte ich einfach in den Flur. Ich muss hier weg, ich muss meine Gefühle wieder kontrollieren. Ich muss kontrollieren, was ich sage, was ich erzähle. Ich brauche die Kontrolle über mich selbst zurück. Doch im nächsten Moment wurde ich vorsichtig zurück gezogen und krachte gegen seine muskulöse Brust. "Lass mich los.", rief ich und versuchte mich lozureißen, aber er war zu stark. "Nein.", sagte er ernst und zog mich stattdessen nur noch näher an ihn. "Bitte, lass mich los.", schluchzte ich und jetzt war es vorbei. Tränen liefen meine Wangen in Strömen herunter und die letzte Kraft mich von ihm los zu reißen, war verschwunden. Er hob mich plötzlich einfach hoch, weshalb ich mich ängstlich an ihn fest klammerte. "Ich hab dich, Abby.", flüsterte er beruhigend und setzte sich mit mir in seinen Armen auf sein Bett. Ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Es waren einfach zu viele Gefühle, die in mir kämpften. Wut auf mich selbst, dass ich es verraten hatte; Wut auf mich, dass ich nicht die Kraft hatte zu gehen; Scham, weil er all die Verletzungen gesehen hatte; Scham, weil er weiß, wie schwach ich bin; Verzweiflung, da ich nicht weiß, wie es weitergehen wird; Angst davor, dass Jonathan etwas Unüberlegtes tun könnte; Angst vor meinem Onkel, wenn er erfährt, dass ich es jemanden gesagt habe; Angst davor, was Jonathan über mich denkt und Angst, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben möchte; Trauer um mein altes Leben; Schmerz für alle meine Verletzungen und Narben. Ich brach gänzlich in seinen Armen zusammen und er war da, um mich festzuhalten. Jonathan streichelte beruhigend durch mein Haar. Er sagte nichts, um mir Zeit zu geben. Die Tränen nahmen kein Ende bis irgendwann die Müdigkeit Besitz von mir ergriff und mich in einen ruhigen Schlaf in seinen Armen zog.

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Da ich weiß, dass in diesem Kapitel ein sehr sensibles und heikles Thema angesprochen wurde, ist es mir persönlich wichtig diese Info zu teilen:

Wenn du selbst depressiv bist, wenn dich Suizid-Gedanken plagen, dann kontaktiere bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlose Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123.
Die Deutsche Depressionshilfe ist in der Woche tagsüber unter 0800 / 33 44 533 zu erreichen

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