Kapitel 46

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Ich wachte auf, als ich spürte, wie mir jemand sanft ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und hinter mein Ohr legte. Meine Augenlider flatterten auf und ich sah direkt in Jonathans wunderschöne Augen. Auf seinen Lippen bildete sich ein Lächeln, als er sah, dass ich wach bin. "Ausgeschlafen Schlafmütze?" Ich nickte müde und versuchte zu realisieren, was heute alles passiert war. "Die Schmerztabletten machen mich ziemlich müde.", gab ich leise zu. Er nickte verstehend und wirkte dann nachdenklich. Wir lagen uns direkt gegenüber. So wie es aussah, war er die ganze Zeit bei mir geblieben. Ich konnte es nicht verhindern, dass bei diesen Gedanken mein Herz schneller schlug. "Wir müssen reden.", sagte er nun ernst. Sofort stiegen Sorgen und Angst in mir auf, auch wenn ich gewusst hatte, dass es keinen Ausweg gab und dieses Gespräch überfällig war. "Hör mir einfach zu, ich werde jetzt länger reden und es wäre nett, wenn du mich nicht unterbrichst." Unsicher nickte ich und zog die Decke etwas höher, mit der Jonathan mich zugedeckt haben musste. "Also, oh man, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.", gab er nervös zu und kratzte sich unsicher am Nacken. "Kannst du dich an den Montag erinnern, den ersten Projekttag, wo wir in der Bibliothek saßen und die ersten Ideen gesammelt haben?" Ich nickte, denn ich konnte mich gut daran erinnern. Es lag an dem Tag eine komische Anspannung zwischen uns und keiner wusste, wie er mit dem anderen umgehen sollte. "Ich bin ehrlich, vorher habe ich mich kein Stück für dich interessiert. Du warst einfach ein, auch wenn es doof klingt, Opfer für mich. Ich fand es zwar schon immer komisch, dass du dir immer alles gefallen gelassen hast und dich nie gewehrt hast, aber Matthew war immer sehr epicht darauf dich zu ärgern, also habe ich mitgemacht. Na ja, an unserem ersten Projekttag habe ich dich das erste mal lächeln sehen und auch wenn ich es mir da noch nicht eingestehen wollte, fand ich dein Lächeln wunderschön. Mir wurde bewusst, dass es das erste mal war, dass ich dich Lächeln gesehen hab und ich habe ein schlechtes Gewissen bekommen, dass ich dir so viel Leid angetan habe, sodass du nie einen Grund hattest dein wunderschönes Lächeln zu zeigen." Ich spürte, wie ich rot an lief. Nie hätte ich gedacht, dass sich damals schon etwas in seinem Denken über mich verändert hat. "Ich habe das schlechte Gewissen aber herunter geschluckt und versucht mir einzureden, dass ich nichts für dich empfinde. Trotzdem habe ich daraufhin angefangen dich zu beobachten, um dich besser zu verstehen. Am nächsten Tag habe ich gesehen, wie du immer zu dein Gesicht vor Schmerz verzogen hast und als du dann nach draußen gehumpelt bist und an der Säule zusammengebrochen bist, hat sich irgendwie alles verändert. Das schlechte Gewissen war nicht mehr zu unterdrücken und dein Leid, dein Schmerz haben mir selbst so in der Seele weh getan, dass ich dir am liebsten all deinen Schmerz genommen hätte und auf mich übertragen hätte. Es war schrecklich, wie du in meinen Armen dein Bewusstsein verloren hast. Ich habe genau gesehen, wie das Leuchten deiner Augen erlosch und das Schlimme war, ich war machtlos. Ich konnte dich nur im Krankenhaus abgeben. Ich konnte nicht bei dir bleiben, ich konnte dir den Schmerz nicht nehmen und das Schlimmste war die Ungewissheit, wie es dir geht. Zwar habe ich die ganze Zeit versucht mich vom Gegenteil zu überzeugen, dass du mir rein gar nichts bedeutest, aber du warst immer wieder in meinen Gedanken. Ich habe dich an dem Donnerstag im Krankenhaus besucht, weil ich wissen wollte, wie es dir geht. Eigentlich musste ich Mom gar nicht besuchen, aber ich habe es mir als Vorwand immer wieder eingeredet, dass ich deshalb ins Krankenhaus gehe und nicht wegen dir. Tja und als du mich dann angeschrien hast und mir verdeutlicht hast, was ich dir antue, ging es mir richtig schlecht. Mir war es immer egal, was andere von mir denken und plötzlich war mir deine Meinung wichtig. Das hat mich rasend vor Wut gemacht. Ständig war ich wütend auf mich, weil ich an dich denken musste. Das hat mich verrückt gemacht und als du dann an dem einen Tag dann zu mir gesagt hast, dass du lächelst, damit du weniger hässlich bist, war ich nicht sauer, weil du das gesagt hast. Nein, ich war sauer auf mich, weil ich dich wunderschön fand und das nicht empfinden wollte. Dann im Flur, als ich dich zu Rede stellen wollte und du zusammen gezuckt bist, wurde mir klar, dass du misshandelt wirst." Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Er hatte also doch damals schon eins und eins zusammen gezählt. "In mir wuchs der Wunsch oder besser gesagt der Wille dich zu beschützen mit jedem Tag, den ich dich beobachtete. Immer wieder versuchte ich mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber es hat nicht geklappt. Immer wieder geisterstest du durch meine Gedanken. Dann hast du angefangen beim Nachsitzen von dir zu erzählen und als du bitterlich geweint hast, war eigentlich schon klar, dass ich dich nicht los lassen kann, dass ich dich beschützen muss. Dein Schmerz war so deutlich zu sehen, dass ich einfach nur wollte, dass du wieder lächeln kannst und ich wollte der Grund für dein Lächeln sein." Seine Stimme klang so warm und ich lauschte gebannt jedem seiner Worte, denn es war nun mal nicht alltäglich, dass er mich an seinen Gedanken teilhaben lässt. "Dann habe ich die Würgemahle an deinem Hals gesehen und all meine schlimmen Vermutungen hatten sich bestätigt. Ich war rasend vor Wut, ich wollte dem jenigen, der dir das angetan hat, denselben Schmerz zu fügen, wie er dir angetan hat oder noch schlimmeres. Weißt du, seit ich sechs Jahre alt bin, habe ich Aggressionsprobleme und normalerweise hätte mich in der Situation niemand stoppen können, aber deine Tränen haben ausgereicht, um die ganze Wut einfach wegzuwischen. Das habe ich zuvor noch nie erlebt. Die Gedanken, was ich alles dem Menschen antun könnte, waren einfach weg und es zählte plötzlich nur noch für mich, dass du nicht mehr weinst. Das war mehr als komisch. Du machst Dinge mit mir, die ich nicht verstehe, Abby. Du hast so einen Einfluss auf mich, dass es mir schon fast Angst macht." Er sah mich noch immer sehr ernst an und ich versuchte alles, was er mir sagte zu verarbeiten. Ich hatte also ebenfalls die Kraft, in ihm etwas zu bewegen, so wie er es in mir tat und auch er hatte Angst davor. "Ich kann dir nicht aus dem Weg gehen, ich kann dich nicht ignorieren und dich aus meinen Gedanken verbannen, denn du findest immer wieder einen Weg in meinen Kopf. Das macht mich wahnsinnig, aber ich habe nicht mehr die Kraft dich zu behandeln, als würdest du mir nichts bedeuten und ich will es auch nicht mehr." Er ergriff meine Hand und ich schaute ihm erstaunt in die Augen. "Am Sonntag wollte ich dich nicht gehen lassen und ich hätte es auch nicht tun dürfen, sieh dir nur deine Verletzungen an. Ich will und kann mir nicht vorstellen, wie viel Schmerzen du gestern erlitten hast und wie viel du noch verspürst. Allein bei der Vorstellung, wie du am Boden liegst und jemand auf dich eintritt, wird mir schlecht und ich will dem Menschen unaussprechliches Leid antun. Wenn Chris nicht im Krankenhaus liegen würde, hätte ich ihn krankenhausreif geschlagen, nachdem er dir so weh getan hat am Samstag." Sein Kiefer spannte sich während seiner Erzählung an und die schiere, pure Wut glühte in seinen Augen auf. Sanft drückte ich seine Hand. Er begann zu lachen, aber es war kein glückliches Lachen. "Auch jetzt, eine Berührung von dir und all meine Wut, die ich gerade noch gespürt habe, ist wie weg geblasen. Wie machst du das verdammt?" "Ich, ich w-weiß es nicht.", sagte ich verunsichert. Er ergriff ganz vorsichtig auch meine zweite Hand. "Abby, ich will, dass du eins weißt. Ich weiß, dass ich es nicht ungeschehen machen kann, was ich dir angetan habe und ich hasse mich jeden Tag selbst dafür, aber ich will bei dir sein und dich weiter kennenlernen. Ich werde dir nie wieder dieses Leid antun, ich will dich beschützen. Ich kann dir einfach nicht mehr aus dem Weg gehen." Überrascht sah ich ihn an. "Gib mir die Chance, dir zu beweisen, wer ich wirklich bin.", flehte er förmlich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Kann ich ihm vertrauen? Wie sollte ich mich entscheiden?

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