Kapitel 22

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Ich hielt mich seit dem Vorfall bedeckt und versuchte möglichst wenigen neben den Stunden zu begegnen, doch nun müsste ich in die Cafeteria. Ich hatte die letzte Stunde damit verbracht eine innerliche Diskusion zu führen, ob ich wirklich essen müsste. Doch schlussendlich hatte mein leerer Magen für mich entschieden, der leise vor sich hin grummelte. Doch die Diskussion war zugleich eine willkommene Ablenkung, denn meine Gedanken waren voller Verrat und Schmerz. Ich wusste, dass mich sein Verhalten nun mehr verletzen würde, nachdem ich ihm etwas Vertrauen geschenkt hatte, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so weh tun würde. Auf der Mädchentoillette musste ich mir sogar einige Tränen wegwischen, die mich überrumpelt hatten, während ich auf der Flucht war. Ich sollte es doch mittlerweile gewohnt sein, dass mein Vertrauen stets kaltblütig missbraucht wird, doch immer wieder war ich so naiv und schenkte Vertrauen. Vielleicht weil ich die letzte Hoffnung an die Menschheit und meine Mitmenschen noch nicht aufgegeben hatte, vielleicht weil meine Eltern mich so liebevoll aufgezogen haben, dass ich den festverwurzelten Glauben an das Gute im Menschen habe oder ich war einfach unheimlich dumm. Unsicher und nervös hatte ich mich in der Schlange in der Cafeteria angestellt und bisher war glücklicherweise niemand hinter mir. Das war aber auch wahrscheinlich meiner Idee geschuldet, die großen Mengen an Schüler zu Beginn der Mittagspause abzuwarten. Es dauerte nicht lange, da war ich an der Reihe und nahm mir das Beilagenbrötchen. Gerade als ich bezahlen wollte, spürte ich eine Gestalt hinter mir, weshalb ich zusammenzuckte und etwas zur Seite wich. Mein Blick traf auf leuchtende eisblaue Augen. Was macht er hier? Verwirrt sah ich ihn an. "Sie nimmt auch noch das Tagesgericht.", sagte er zu der Cafeteriaangestellten, die sofort den Teller auf mein Tablett stellte und uns ein Lächeln schenkte. "A-aber d-das k-kann ich n-nicht.", doch bevor ich den Satz zu Ende sprechen konnte, hatte Jonathan bereits für mich bezahlt. Er schenkte mir sein strahlendes Lächeln, drehte sich um und war so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Noch total perplex stand ich da. War das gerade wirklich passiert? "Alles gut, Kindchen?", fragte mich die alte Frau hinter der Theke. Ich nickte ihr zu und lief mit dem Tablett Richtung Ausgang. In der Bibliothek dürfte ich keine heißen Speisen essen, also suchte ich mir draußen auf dem Schulhof eine abgelegene alte Tischtennisplatte, auf die ich mich setzte und vorsichtig das Tablett abstellte. Nun versuchte ich zu realisieren, was noch vor ein paar Minuten passiert war, während ich genüsslich die ersten Bissen Salat zu mir nahm. Jonathan hatte einfach plötzlich hinter mir gestanden, Essen für mich bestellt und es bezahlt. Ich konnte es nicht fassen. Er hatte Essen für mich gekauft. Ich hätte es nicht annehmen dürfen, aber mein Magen freute sich einfach zu sehr über den Salat, die zwei Fischstäbchen und die Bratkartoffeln dazu. So viel hatte ich lange nicht mehr für mich. Ich war ihm für einen Moment beim Essen so dankbar, dass ich den Vorfall von heute morgen für einige Sekunden vergaß, doch im nächsten Moment machte ich mir wütend klar, dass er nicht so mit mir umgehen könnte. Schließlich behandelte er mich, wie es ihm gerade gefiel und passte. Mal war er verständnisvoll, nett und gutmütig, beim nächsten Mal gibt er sich gerade so Mühe umgänglich zu sein und dann ist er wieder so ein arroganter Idiot, der jeden um sich herum ohne schlechtes Gewissen verletzen konnte. Ich hasste ihn dafür, dass er so ein Idiot war und doch war ich ihm zugleich dankbar für das Essen und alles, was er gestern für mich getan hatte. Der innerliche Zwispalt meiner Gefühle machte mir zu schaffen. Es strapazierte einfach meine Nerven. Ich wünschte mir so sehr, dass er immer seine gute Seite zeigen würde, aber ich war mir im klaren, dass es wahrscheinlicher war im Lotto zu gewinnen, als das dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde und wenn doch würde es mein Wunder sein. Mein ganz persönliches Wunder, denn tief in mir drinnen flüsterte eine Stimme ermutigend, dass er diese gute Seite mir immer öfter zeigte. Mit vollem Magen und einem Lächeln, dass ich mir nicht verkneifen konnte, brachte ich das Tablett weg und machte mich auf den Weg zum Kunstraum. Es war wieder Wahlpflichtkurs und Zeit für das Projekt, Zeit für Jonathan. Ich wurde nervöser, umso näher ich dem Raum kam. Welche Seite würde er mir nun zeigen? Während wir an dem Projekt gearbeitet haben, war er die meiste Zeit über nett oder zumindest umgänglich, weshalb ich die leise Hoffnung hegte, dass es eine angenehme Stunde mit ihm werden könnte. Doch ich hatte auch Angst und nicht zu vergessen tierische Wut auf ihn. Ich hatte ihm sein Verhalten von heute morgen nicht verziehen und ich hatte es auch nicht so schnell vor. Sein beziehungsweise unser toller Deal war spätestens nachdem Vorfall heute für mich hinfällig. Er blieb mir sein Versprechen des Deals schuldig. Er gab sich aus meinen Augen noch nicht mal Mühe mir Leid zu ersparen, in dem er mich eben nicht wie versprochen vor seinen rüpelhaften Freunden beschützte. Also war ich ihm aus meiner Perspektive auch nichts mehr schuldig. Im Kunstraum angekommen, waren schon alle da bis auf Jonathan, aber er hatte noch eine Minute Zeit bis es zum Beginn der Stunde klingeln würde. Ich hielt mich abseits der Gruppen, um ihnen nicht zu nah zu kommen. Ms. Mabel strahlte über beide Ohren und lächelte verträumt Mr. Klifford an, der seinerseits ihr immer wieder liebevolle Blicke zu warf. Mit dem Klingeln ging die Tür auf und Jonathan kam hereingestürmt mit seiner Skizzenmappe unter dem Arm. Er stellte sich zu mir und dabei berührten sich leicht unsere Arme. Ich bekam Gänsehaut und konnte sein unwiderstehliches Aftershave riechen. Er wirkte gehetzt. Ich konnte seinen vor Anstrengung noch schnellen Atem hören. Doch ich wagte es nicht zu ihm zu sehen. Stattdessen schaute ich meine kaputten Leinenschuhe an, die ich selbst mehrfach notdürftig geflickt hatte. Sie waren wirklich nicht mehr schön, aber zumindest gemütlich. Jedoch kam mir der beunruhigende Gedanke, dass sie mich im kommenden Winter kaum warm halten würden. Während ich angestrengt darüber nachdachte, wie viele Socken ich übereinander anziehen könnte und trotzdem noch in die Schuhe passen würde, begannen Ms. Mabel und Mr. Klifford die Stunde. Nacheinander fragten sie die einzelnen Gruppen nach dem Stand des Projektes, doch ich war noch immer so in meinen Gedanken versunken und auf meine Schuhe fixiert, dass ich erst nicht mitbekam, dass sie bei Jonathan und mir angekommen waren. "Abby und ich haben die Geschichte fertig und erste Skizzen besprochen. Heute zeige ich Abby die restlichen Skizzen und Abby hat ein Programm gefunden, in dem wir das Bilderbuch zusammenfügen können.", erklärte Jonathan ruhig und hatte mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität geholt. Alle sahen uns geschockt an außer die beiden Lehrer, die uns ein Lächeln schenkten. Ich wusste, warum alle geschockt und verwirrt mit offenen Mündern da standen. Eigentlich war der Grund wirklich traurig und bedenklich, denn wer hätte gedacht, dass meine Mitschüler schauen, als hätten sie einen Geist gesehen, nur weil Jonathan dreimal meinen Namen gesagt hatte. Mich verwunderte es nicht sonderlich, denn schließlich sprach er mit den Lehrern und ihm schien etwas an seiner Kunstnote zu liegen. Ein richtiges Wunder wäre es gewesen, wenn er mich vor Mitschülern oder seinen Freunden mit Namen angesprochen hätte, aber davon könnte ich nur träumen. Dieser Tag würde nie kommen. Während noch alle verblüfft in unsere Richtung sahen, hatten Ms. Mabel und Mr. Klifford den weiteren Ablauf erklärt bis sie uns schlussendlich in die Gruppenarbeit schickten. Jonathan lief los und ich folgte ihm. Ich wusste, er würde wieder zur Bibliothek gehen. Dort angekommen schmiss er sich lächelnd auf das Sofa und ich setzte mich weiter von ihm entfernt auf den Sessel. Ich wusste noch immer nicht, was ich von ihm halten sollte. Der Zwispalt meiner Gefühle wurde von Sekunde zu Sekunde stärker, vor allem weil er so unverschämt gut aussah und mir sein wunderschönes Lächeln schenkte. Ich ermahnte mich mehrfach in Gedanken nicht schwach zu werden und begann meinen Block und Stifte heraus zu holen. "Wie hat dir das Essen geschmeckt?", fragte er neugierig, setzte sich auf und legte seine Skizzenmappe auf den Tisch, der uns voneinander trennte. Mir gab der Tisch den nötigen Sicherheitsabstand zu ihm den ich brauchte, um einigermaßen klar denken zu können. "Es war sehr lecker.", stotterte ich unsicher. Nervös spielte ich mit meinen Fingern und versuchte seinem intensiven Blick auszuweichen. Ich sah überall hin nur nicht in seine Augen. "Hör mal Jonathan, danke, dass du das Essen für mich gekauft hast. Das war wirklich lieb, aber das hättest du nicht tun sollen. Ich mag es nicht, Geld von anderen anzunehmen.", stotterte ich. "Abby, sieh mich an.", forderte er mich ernst auf, weshalb ich meinen Blick hob und ihn ängstlich ansah. "Ich wollte es und du brauchtest es. Fertig.", sagte er matt und ließ keinen Raum zur Diskussion. Ich seufzte. Dieser Mensch brachte mich um den Verstand. Ich möchte kein Geld von ihm annehmen, warum versteht er das nicht. Ich fühle mich so erbärmlich, weil er mir das Essen gekauft hat und nach seiner Aussage fühlte ich mich noch elendiger. Denn er hatte es betont, dass ich es brauchte, aber es mir nicht kaufen konnte. Während ich mich in meinen Gedanken über ihn verlor, griff ich mir wütend und verzweifelt durch die Haare. "Was ist das?", fragte Jonathan geschockt und stand auf. Sofort tauchte ich aus meiner Gedankenwelt auf und sah seinen Blick. Frustriert und verzweifelt musste ich feststellen, dass er meinen Hals gesehen hatte, weil ich meine Haare zu sehr bewegt hatte. "Das ist nichts.", stotterte ich ängstlich in der leisen Hoffnung, dass er es fallen lassen würde, aber ich irrte mich. Er kam zu mir herüber, zog an meinem Schal und entblößte so die blau lilanen Mahle an meinem Hals. Geschockt sah er sie sich an. "Abby, woher stammen die Flecken?"

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