Kapitel 83

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Kurze Zeit später hatte ich ein dunkelblaues Cocktailkleid von Cassandra an und Vanessa hatte sich um die Schminke gekümmert. Nach zwei drei Handgriffen von Cassandra hatte ich auch wieder eine Hochsteckfrisur. Erstaunt musterte ich mich im Spiegel. Natürlich war das Kleid weniger edel und meine Haare lagen nicht mehr so schön wie vorher, aber sie hatten mich wortwörtlich gerettet. Dankbar drehte ich mich zu ihnen um. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke, danke, danke, dass ihr mir geholfen habt.", stotterte ich lächelnd. "Gerne.", sagte Vanessa und Cassandra schenkte mir ein Lächeln. "Aber jetzt habe ich wirklich Hunger. Mein Magen grummelt schon die ganze Zeit vor sich her.", meinte Vanessa wehleidig und brachte Cassandra und mich zum Lachen. "Ich h-hoffe, ihr habt das Essen w-wegen m-mir nicht verp-passt.", befürchtete ich. "Das glaub ich nicht. Sie haben vor zehn Minuten erst die Suppe serviert.", sagte Cassandra nachdenklich nach einem Blick auf ihre goldene filigrane Armbanduhr. "Dann schnell!", rief Vanessa und eilte voran. Bevor wir den Saal betraten, bedankte ich mich nochmal bei Vanessa und bei Cassandra. Dann liefen Vanessa und ich zu unserem Tisch. Die meisten Schüler bemerkten uns gar nicht, weil sie vertieft in ihre Gespräche waren, während sie aßen. Doch Anthony schaute Vanessa und vor allem mich verwirrt an. Anthonys Blick folgend trafen sich Jonathans und mein Blick für wenige Sekunden, denn dieses Mal war ich es, die den Blickkontakt brach. Am Tisch setzte ich mich wieder neben ihn. "Also verstehe mich nicht falsch, du siehst immer noch unglaublich aus, aber warum das Umstyling?", fragte Anthony verwirrt. Bevor ich antworten konnte, ergriff Vanessa sauer das Wort: "Melania hat Abby ihr Getränk über den Kopf geschüttet. Diese verfluchte Bitch!" "Was? Wieso?", fragte Anthony empört. "Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort.", stotterte ich gepeinigt und hoffte, dass das Thema beendet sein würde. Plötzlich legte sich unter dem Tisch Jonathans warme Hand auf meinen Oberschenkel. Ich zuckte zusammen und versteifte mich etwas. Doch im nächsten Moment versuchte ich mich zu entspannen, um niemand aufmerksam werden zu lassen. Seine Hand verweilte dort und sein Daumen zeichnete kleine Kreise. Es machte mich unheimlich nervös und ich konnte mich kaum darauf konzentrieren die mittlerweile kalte Suppe zu essen. "Wie habt ihr so schnell ein neues Kleid für Abby her gezaubert?", fragte Anthony, der scheinbar das Thema für sich noch nicht abgeschlossen hatte. "Cassandra hatte noch eins in ihrem Koffer.", erklärte Vanessa unaufgeregt, während sie genüsslich die Suppe verspeiste. Ich schreckte dagegen leicht zusammen, als sich Jonathans Hand auf meinem Oberschenkel anspannte, als Cassandras Name fiel. "Ist alles gut, Abby?", fragte Anthony besorgt, der mich wohl erwischt hatte, wie ich zusammen gezuckt war. "Ja, ich, ich habe mir den Zeh am Tischbein gestoßen.", stotterte ich unsicher hervor. Etwas misstrauisch musterte Anthony erst mich und dann wanderte für einen kurzen Moment sein Blick zu Jonathan. Ich wurde immer nervöser. Jonathans Hand auf meinem Oberschenkel, die sich mittlerweile wieder entspannt hatte, verwirrte mich und ließ meine Gedanken wild durcheinander springen und Anthonys misstrauischer Blick machte die Situation nur noch Nerven aufreibender. Als Jonathans Hand nun plötzlich weiter zur Innenseite meiner Oberschenkel fuhr, verschluckte ich mich stark und spannte mich an. Aus Reflex drückte ich meine Beine zusammen und hustete. Vanessa erschreckte sich und klopfte mir sofort bedacht auf den Rücken. Anthony schaute jedoch erneut misstrauisch zu Jonathan. Als ich mich beruhigt hatte, wurden bereits die Teller abgeräumt und der Hauptgang serviert. Jonathans Hand verließ meinen Körper und hinterließ Kälte, wo zuvor noch Wärme war. Aber andererseits war dies auch sehr gut, denn so konnte ich mich nun endlich auf das Essen konzentrieren. Das Dessert gefiel mir persönlich am besten. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Schokoladenpudding und zusammen mit den heißen Kirschen und der Waffel war es wirklich unwiderstehlich lecker. Nach den Speisen und einigen Reden wurde vom Bürgermeister höchstpersönlich mit seinem Lebensgefährten die Tanzfläche eröffnet. Unsicher hatte ich mich zu Vanessa, Anthony und ihren Freunden gestellt, denn Jonathan war bei Chris und Melania. Für einen Moment fühlte ich mich fürchterlich naiv, als ich mich dabei ertappte mir zu wünschen mit Jonathan zu tanzen. Doch er würde mich niemals fragen und mir fehlte jeglicher Mut dazu ihn zu fragen. Anthony dagegen ergriff seine Chance und forderte mich zum Tanzen auf. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich freudestrahlend zustimmte. Schließlich hatte ich schon so lange nicht mehr getanzt. Mein Herz pochte vor Aufregung. Anthony legte seine rechte Hand an meine Hüfte und ergriff meine Hand. Schnell bewegten wir uns zum Takt der Musik. Mein Körper bewegte sich wie von selbst. Zwischendurch schloss ich die Augen und genoss das Gefühl, wie mein Körper mit der Musik eins wurde. Mich durchströmte ein unglaubliches Glücksgefühl und mir wurde schlagartig bewusst wie sehr mir das Tanzen die Monate über gefehlt hatte. All diese Gefühle in mir hatten nichts mit Anthony zu tun, nein, ich strahlte nur durch das Tanzen allein. Es war einfach so schön. "Abby?", fragte plötzlich Anthony. "J-ja." Er setzte zur Drehung an, ich drehte mich um meine eigene Achse und schlussendlich zog er mich zurück in die Tanzhaltung. "Mit dir zu tanzen, ist wie mit einer Feder zu tanzen. Ich brauche überhaupt nichts machen. Du machst jeden Schritt und jede Bewegung von selbst.", stellte er erstaunt fest. "Gehst du regelmäßig tanzen oder hattest du einfach nur einen sehr guten Tanzkurs?" Ich begann zu lachen. "Ich tanze schon mein ganzes Leben lang.", stotterte ich lächelnd. "Wirklich? Warum hast du das noch nie erzählt?" "Es g-gab n-nie den Zeitp-punkt, um es z-zu erzählen.", versuchte ich mich hinaus zu reden, denn innerlich wusste ich genau, warum ich es nicht erzählt hatte. Denn das Tanzen war nun unweigerlich mit dem Unfall und so dem Leid meiner Eltern verbunden. Ich hatte seitdem nicht einmal mehr getanzt aus Angst es könnte mich untröstlich machen und ich hatte noch immer Angst, Angst davor allein zu tanzen, wieder modern dance zu tanzen. Wir hatten bereits vier Lieder durchgetanzt, als mir dies schlagartig bewusst wurde. Tief atmete ich durch und versuchte mich abzulenken, indem ich mich auf die Musik konzentrierte. Doch es half nicht. Mein Herz wurde immer schwerer und die Erinnerungen von den schlimmen Ereignissen bahnten sich einen Weg in meine Gedanken. Suchend huschte mein Blick durch den Saal, in der Hoffnung irgendetwas zu finden, an dem ich mich festhalten könnte, was mich auf andere Gedanken bringen könnte. Plötzlich traf ich auf eisblaue Augen. Sie musterten wütend Anthony bis sich unsere Blicke trafen. Sein Ausdruck in den Augen wurde weicher und besorgter. Ich hielt den Blickkontankt und versuchte verzweifelt mich durch Jonathan abzulenken. Dieser bewegte sich plötzlich zu meinem Erschrecken auf die Tanzfläche und lief zielstrebig auf mich zu. Dann blieb er neben uns stehen. Ich hatte noch nicht ganz verstanden, dass er wirklich neben uns stand, als er bereits das Wort ergriff: "Dürfte ich ablösen?" Anthony schaute Jonathan irritiert an und blickte dann fragend zu mir. Schnell nickte ich. Für einen Moment konnte ich Schmerz in Anthonys Ausdruck wahrnehmen, bevor er sich leicht zu mir beugte. "Ein Hilferuf oder ein Nicken von dir in meine Richtung und ich bin sofort bei dir und rette dich.", flüsterte er, ließ mich los und schritt davon. Jonathan positionierte sich vor mich, griff mit einem sanften zugleich festen Griff meine Hand sowie meine Hüfte und begann uns zur Musik durch den Saal zu bewegen. "Ich sehe den Schmerz in deinen Augen. Was ist los? Hat er dir weh getan?", fragte Jonathan und ich hörte seinen vor Wut angestrengten Atem. "Nein, nicht Anthony." "Wer dann?" "Du Jonathan." Meine Stimme zitterte leicht. Verwirrt sah er mich an. "Du ziehst mich zu dir und im nächsten Moment stößt du mich ab. Was soll ich denn da denken? Meinst du wirklich, dieses Verhalten verletzt mich nicht?", ich stotterte zu meiner Überraschung nur leicht und jedes Wort kam tief aus meiner Seele. Vielleicht sprach ich all dies nur an, um die schmerzlichen Erinnerungen zu verdrängen, aber Jonathan sollte wissen, wie sein Verhalten mich verletzt. Etwas sprachlos sah er mich an. "Ich dachte, du weißt, dass mein Verhalten dir gegenüber ernst ist, wenn wir zusammen sind?" Er klang schon fast verletzt. "Ich weiß nicht, was echt ist. Dein Verhalten in der Öffentlichkeit oder dein Verhalten, wenn wir allein sind? Ich verstehe nicht mal, warum du gerade mit mir tanzt. Du müsstest mich doch ignorieren. Wir sind in der Öffentlichkeit.", stellte ich klar. "Abby.", seufzte er schon fast verzweifelt. "All die Momente, die wir in den letzten Wochen zusammen allein verbracht haben, waren echt. Ich mag dich, Abby, sehr sogar.", beteuerte Jonathan ernst. Ich suchte in seinen Augen nach Anzeichen, ob er log, aber ich fand keine. "Wann können wir richtig reden? Wann kann ich dir endlich erklären, warum ich gelogen habe?" Er schaute durch den Saal und dann an die Decke, während wir weiter tanzten. Es hatte sich eine Falte auf seiner Stirn gebildet, was meistens andeutete, dass er angestrengt nachdachte. "Siehst du die Tür dort vorne?" Jonathan nickte zu einer kleinen Tür herüber neben der Bühne. "J-ja." "In einer halben Stunde treffen wir uns dort.", sprach er weiter. Ich nickte und damit ließ er mich auf der Tanzfläche stehen. Das Lied war zu Ende und ein neues begann zu spielen. Er hatte den Moment perfekt abgepasst. Während ich zu Vanessa lief, verweilte ein Gedanke in meinem Kopf. Jonathan mag mich. Er mag mich sogar sehr, aber ist mir das genug?

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