Kapitel 67

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Nun stand ich hier im aufkommenden Feuersturm und wusste, dass mein Kartenhaus in wenigen Sekunden zusammen stürzen würde. Matthew blieb abrupt vor uns stehen und seine Augen waren erschrocken aufgerissen. Jonathans Augenbrauen zogen sich vor Wut zusammen und er schaute sauer zwischen Matthew und mir hin und her. "Was ist hier los?" Seine Stimme zitterte vor Wut und es war klar: Wir waren ihm eine Erklärung mehr als schuldig. Verzweifelt versuchte ich meine Gedanken zu sortieren, um vernünftige, logische Sätze zu einer Erklärung zusammen zu fügen, aber mein Herz hing schwer in meiner Brust und meine Beine zitterten nicht vor Kälte, nein, vor immenser und unerbittlicher Angst alles zu verlieren.  "J-jonathan, ich w-wollte.", begann ich, doch wurde sogleich unterbrochen: "Wollt ihr mich hier irgendwie zum Narren halten? Warum kommst du aus Matthews Haus? Spielst du hier ein krankes Spiel?" Jonathans Augen glühten vor Enttäuschung sowie Abscheu und das war noch schlimmer als die schiere, pure Wut in seinen Augen. Plötzlich ergriff Jonathan Matthew an seinem T-Shirt und zog ihn wutentbrannt näher zu sich. "Wehe, du hast sie berührt oder begehrt!" "Jonathan, nein, er ist mein Cousin!", schrie ich und stürzte mich zwischen sie, bevor sie sich irgendetwas antun könnten. "Stimmt das?", brüllte Jonathan. Die Frage war eindeutig nicht an mich gerichtet. "Ja." Ich konnte Matthews Stimmungslage nicht deuten. Er wirkte wütend, aber vielleicht auch mehr verzweifelt. "Das heißt dein kranker Vater hat sich die ganze Zeit über an Abby vergriffen und sie misshandelt vor deinen Augen und du hast nicht besseres zu tun, als sie auszugrenzen und uns alle anzustacheln sie in der Schule zu mobben? Und du Abby, warum hast du es mir nicht einfach gesagt? Warum missbrauchst du mein Vertrauen? Wieso belügt ihr mich beide? Alter, ihr seid beide das Allerletzte! Ihr verdient euch beide!", brüllte Jonathan uns an und drehte sich nun um. Matthew stand total geschockt da, als könnte er sich nicht mehr bewegen. Mir liefen mittlerweile tausende Tränen die Wangen herunter. Ich konnte ihn doch jetzt nicht so gehen lassen. "Jonathan, b-bitte, lass es m-mich erklären.", rief ich, während ich ihm nach rannte. Doch er drehte sich nicht um, wie er schnellen Schrittes zu seinem Auto lief und einstieg. Vor seinem Auto blieb ich stehen und stellte mich vor seine Motorhaube. "B-bitte, Jonathan, lass uns r-reden, fahre n-nicht weg, b-bitte!", weinte ich bitterlich. Doch seine Augen schauten mich nur voller Enttäuschung und Wut an. All ihr Leuchten war verschwunden, stattdessen starrte mich pures Schwarz an. Er fuhr ein Stück rückwärts. "J-jonathan b-bitte!", rief ich erneut, obwohl mir langsam schmerzlich bewusst wurde, dass er nicht nochmal aussteigen würde. Er fuhr an mir vorbei und damit war es zu Ende. Meine Beine gaben nach. Nun hockte ich hier auf meinen Knien auf der nackten, kalten und regengetränkten Straße, während die Tropfen auf mich einprasselten. Mein Herz zog sich immer wieder schmerzhaft in meiner Brust zusammen, während ich bitterlich weinte. Vor Verzweiflung schrie ich in meine Hände, aber es würde nichts an alle dem ändern. Ich hatte es vermasselt. Ich hatte die Wahl und habe falsch entschieden, denn ich hätte es ihm sagen müssen. Mein schlechtes Gewissen ließ nur den schmerzenden Druck auf meiner Brust wachsen. Tief wog der Kummer in meinem Herzen und ich war nicht fähig aufzustehen. Verzweiflung ließ meine Gedanken sich immer wieder in neuen niederschmetternden Gedankenstürmen formieren, nur um mich selbst durch Vorwürfe zu stören. Wie sollte ich das nun je wieder gerade biegen? Ich hatte Jonathans Vertrauen schwer gebrochen und er wirkte nun mal nicht wie der Typ Mensch, der einem schnell vertrauen schenkt und schnell vergibt. Ich hatte alles kaputt gemacht. Die Tränen tropften zusammen mit dem kalten Regen auf meine durchnässte Kleidung und zog mich weiter hinunter. Ich hatte meine Chance, mein Glück dumm und naiv verspielt. Ich wusste nicht, wie die Zeit verging. Es war, als würde ich in einem anderen Zeitkontinuum stecken, dass mir immer wieder spiegelte, was zuvor geschehen war. Ich hätte es ihm einfach sagen sollen, egal, ob er müde war, er zu spät kam oder ich zu spät gekommen wäre. Ich hätte es ihm sagen müssen. Irgendwann stand plötzlich eine Gestalt neben mir. Doch ich schaute nicht auf. "Willst du erfrieren?", fragte Matthew sauer. Ich nickte weinend. Mit einem Ruck hob er mich hoch und trug mich ins Haus. Total durchnässt schmiss er mich auf meine Matratze. "Warum war Jonathan hier? Verdammt! Ich hatte dir verboten dich mit ihm zu treffen. Du hast alles kaputt gemacht! Weißt du eigentlich, wie viel mir die Freundschaft mit Jonathan bedeutet? Gott, du bist so dumm! Du hattest nur eine scheiß Aufgabe. Du solltest dich nur von ihm fernhalten! Aber nicht mal das kriegst du hin! Wie dumm und naiv kann ein Mensch sein? Ich will dich nicht mehr sehen bis ich Freitag ausziehe. Du hast alles kaputt gemacht und für was? Nur für dich, du egoistische Schlampe! Wenigstens hast du ihn genauso verloren!", brüllte mich Matthew wutentbrannt an. Im nächsten Moment stürmte er hinaus und schloss meine Tür ab. Geschockt stand ich auf und rannte zur Tür. "M-matthew, m-mach die T-tür auf!", schrie ich verzweifelt und klopfte wie verrückt dagegen. "Ich würde leise sein, wenn du nicht windelweich von meinem Erzeuger geschlagen werden willst." Ich schrie wütend und verzweifelt auf. Immer wieder kreiste ich durch mein Zimmer. Meine Gedanken malträtierten mich. Mein Herz zog sich schmerzhaft in meiner Brust zusammen und meine Kehle schnürrte sich vor schlechtem Gewissen zusammen. Doch ich kam nicht zur Ruhe. Meine Gedanken waren so laut. Sie schrien mich förmlich an. Also kreiste ich unruhig weiter meine Runden bis mein Körper nachgab und ich unter der Last zusammenbrach.
Durch dreimal lautes Klopfen an meiner Tür und einem Klicken des Schlosses wurde ich wach. Ich fühlte mich elendig. Mühsam raffte ich mich auf und lief ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Auch die warme Dusche konnte mich nicht entspannen. Mit Gänsehaut stand ich unter der Dusche und ließ das Wasser auf mich hinab prasseln. Als ich wenige Minuten später vor dem Spiegel stand, sah ich einen Geist meiner selbst. Ich war leichenblass. Meine Augen waren dick angeschwollen und lila, blau unterlaufen. Selbst meine Haare hingen trübselig herab. Ich ließ sie offen in der Hoffnung, dass sie mein Gesicht etwas verdecken würden. In meinem Zimmer zog ich mir meine weiteste Kleidung an und lief hinunter, um mein Frühstück zu holen. Aus dem Wohnzimmer hörte man lautes Schnarchen und in der Küche lagen leere Bierdosen. Alles war wie immer und doch schmerzhafter als früher. Völlig kraftlos trottete ich zur Schule, den Apfel verpackt in meinem Rucksack, da mir der Hunger gestern vergangen war. Mit Mühe kam ich gerade so pünktlich zum Religionsunterricht. Das hätte mir noch gefehlt, dass Mr. Prayer wieder wütend auf mich ist. Der Unterricht zerrte sich elendig in die Länge und ich konnte mich nicht konzentrieren. Mein Blick fiel immer wieder auf den leeren Platz neben Matthew, der mir wiederum keinen Blick schenkte. Mir schwirrte der Kopf und noch immer fühlte sich meine Brust so immens schwer an. Die Schuldgefühle lasteten schwer auf meinen Schultern und zogen mich nur so herunter. Auch im Englischunterricht fühlte ich mich so schrecklich leer und taub. Seit heute morgen hatte ich die winzige Hoffnung gehabt mit Jonathan sprechen zu können, ihm alles erklären zu können, aber er war augenscheinlich nicht anwesend. Das Leben vor ihm war schwer und voller Leid, das Leben mit ihm dagegen so viel einfacher und voller Hoffnung und das Leben nach ihm nun unheimlich schrecklicher als das Leben vor ihm. Wie sollte es nur weitergehen?

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