Kapitel 64

664 41 2
                                    

Was machen wir jetzt? "Mom, lenke Matthew kurz ab. Ich ziehe mich um und fahre mit ihm weg.", sagte Jonathan festentschlossen und stand bereits auf. Dr. Brenigan nickte schnell und lief zurück in den Flur. "Jonathan?" Er hielt inne und drehte sich kurz zurück zu mir. "Ich bin bis heute Abend wieder da, mache dir keine Gedanken. Ich lenke ihn ab. Er wird dich hier nicht finden.", sagte er leise, beugte sich zu mir und küsste nur kurz meine Stirn. Im nächsten Moment drehte er sich um und verschwand ebenfalls im Flur. Ich seufzte und musste mir eingestehen, dass ich enttäuscht war. Vielleicht war ich sogar eifersüchtig auf Matthew, dass er mir die Zeit mit Jonathan gestohlen hatte, aber ich fühlte mich auf jeden Fall traurig. Dabei hatte Jonathan uns gerettet. Ich kann mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn Matthew uns hier zusammen entdeckt hätte. Auch weiß Jonathan zum Glück nicht, dass Matthew mein Angreifer im Krankenhaus war, sonst würde ich mir wahrscheinlich gerade Sorgen um Matthew machen, denn Jonathan hatte mir ja von seinen Aggressionsproblemen erzählt und der unbändigen Wut, die er dann empfand. Vielleicht sollte ich Jonathan endlich die Wahrheit über mich und Matthew erzählen. Es würde alles zwischen uns so viel einfacher machen. Ich müsste ihn nicht länger belügen und könnte mich auf das, was immer es ist, komplett einlassen. Aber würde es wirklich alles einfacher werden? Was ist, wenn Jonathan total ausrastet, weil ich ihn die ganze Zeit über belogen habe? Oder was ist, wenn das das Ende der Freundschaft zwischen Matthew und Jonathan bedeutet? Könnte ich das Matthew antun? Jonathan und Matthew haben so eine enge Freundschaft. Ich kann mich doch nicht zwischen sie stellen? Vielleicht würde aber auch keiner der beiden Szenarien eintreten und ich bin einfach überaus dramatisch. Ich seufzte und kuschelte mich noch mehr in die Decke, denn dort wo Jonathan vor wenigen Minuten noch saß, ist Kälte und Leere geblieben. Jonathan verdient es jedoch die Wahrheit von mir zu hören. Ich will nicht, dass er es durch andere Umstände erfährt und ich vielleicht alles verliere. Kann ich denn etwas verlieren, was mir nicht mal gehört? Der Film lief noch immer im Hintergrund, aber ich verlor mich in meiner Gedankenwelt und schenkte dem Drama, dass sich vor meinen Augen im Fernseher abspielte keine Beachtung. Leise klopfte es, sodass ich hochschreckte, aber es war nur Dr. Brenigan. "Abby, kann ich mit dir reden?" Unsicher nickte ich und sie kam herein, um sich neben mich auf die Couch zu setzen. Nervös spielte ich mit meinen Fingern. Mir war bewusst, dass sie nun über den gestrigen Vorfall sprechen möchte. Doch ich war dafür nicht bereit. Ich wusste nicht, wie ich das rechtfertigen sollte noch wie ich überhaupt für das Geschehene Worte finden sollte. "Kann es sein, dass Jonathan noch immer nicht weiß, dass Matthew dein Cousin ist?", fragte Dr. Brenigan beunruhigt. Ich schüttelte nur den Kopf und musste mir eingestehen, dass das schlechte Gewissen unter dem forschenden Blick von Dr. Brenigan nur wuchs. "Meinst du nicht, Jonathan verdient die Wahrheit?" "Dr. Brenigan, ich weiß, dass er sie verdient und ich hätte es ihm auch schon längst sagen müssen. Doch ich wusste nicht wie und Matthew hat alles dafür getan, dass ich dies nicht tue. Ich will nicht zwischen Jonathan und Matthew stehen. Das wäre nicht recht.", stotterte ich und versuchte so verzweifelt meinen Standpunkt zu erläutern. "Erst einmal Abby, du kannst mich Maggie nennen. Das Förmliche behalten wir uns für das Krankenhaus vor. Als zweites, glaubst du nicht auch, dass es ebenso Unrecht von Matthew ist sich zwischen dich und Jonathan zu stellen?" Verwirrt sah ich sie an, denn diesen Blickwinkel hatte ich noch nicht eingenommen. "W-wie m-meinen Sie, ähm, du das?" "Ich habe Jonathan noch nie so ausgeglichen erlebt, wie wenn er bei dir ist oder bei dir war. Weißt du Abby, ich habe gelernt mit unserer Vergangenheit umzugehen und gelernt die Gegenwart zu lieben, doch Jonathan... es tut mir in der Seele weh, ihn immerzu so zu sehen, aber er hadert mit sich und unserer Vergangenheit. Er ist rastlos und so voller Wut, doch wenn du bei ihm bist oder er bei dir war, dann wirkt er glücklich und ausgeglichen. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll, denn ich habe nicht das Recht, dir von unserer Vergangenheit zu erzählen, das sollte seine Entscheidung bleiben, wann er dir davon erzählt und das wird er, das weiß ich. Und Abby, du hast es nicht leicht. Ich habe gesehen, wie du die letzten Monate gelitten hast, wie es dir von Tag zu Tag schlechter ging. Doch an dem Tag, wo du deiner Mutter von Jonathan erzählt hast, warst du anders. Du warst so voller Leben. Ihr habt es beide verdient glücklich zu sein und ich wünsche mir so sehr für euch, dass ihr aneinander festhält und dem jeweils anderen aufbaut. Deshalb empfinde ich es als Unrecht, wenn Matthew sich zwischen euch stellt." Dr. Brenigan bzw. Maggie klang sehr ernst, während sie mir all dies anvertraute. Dieses Gespräch ließ einiges für mich klarer werden. Zugleich warf es aber auch neue Fragen auf, sodass ich zu dem Schluss kam, dass Jonathan ebenso ein Rätsel darstellt, wie ich es für ihn zu sein scheine. "Aber ich würde mich doch auch zwischen Matthew und Jonathan stellen?", gab ich verzweifelt und stotternd meine Gedanken preis. "Das sehe ich nicht so. Abby, wie ich dich einschätze, bist du nicht der Typ Mensch, der Jonathan es verbieten würde sich mit Matthew zu treffen?" Maggie hielt inne und so wurde ihre Aussage zur Frage. "D-das würde ich n-nie.", beteuerte ich und da war ich mir sicher, dass ich das nie tun könnte. "Siehst du, ich sehe also keine Anzeichen dafür, dass du dich zwischen sie stellen würdest. Sie könnten genauso befreundet sein wie jetzt auch. Es müssten nur alle Parteien zulassen, dass ihr beide Kontakt habt oder vielleicht ein Paar seid." Ich konnte Maggies Standpunkt verstehen, doch genau das würde die Problematik darstellen. Es würden nun mal nicht alle Parteien zulassen. "Nur so einfach ist es nicht. Matthew würde ein Keil zwischen uns allen schlagen. Jonathan würde sich für Matthew entscheiden und Matthew würde mich allein zurück lassen. Oder Jonathan würde sich in einem sehr unwahrscheinlichen Fall für mich entscheiden und so seine Freundschaft mit Matthew opfern. Außerdem würde ich Matthew verlieren.", stotterte ich, um die aus meinen Augen aussichtslose Situation zu schildern. "Ach Abby, mach dich doch nicht immer so klein. Matthew wird in beiden Fällen nachgeben, weil auch er ein schlechtes Gewissen hat, dafür kenne ich ihn schon lange genug. Am Ende wird alles gut.", beteuerte sie zuversichtlich. Ich nickte noch immer verunsichert. "Aber das ist nicht das eigentliche Thema, weshalb ich mit dir sprechen möchte. Wie du bemerkt hast, war ich gestern mehr als schockiert über die Ereignisse. Ich hätte nie gedacht, dass Matthew gewalttätig gegenüber anderen werden würde. Deshalb muss ich dich einfach fragen, ob er dir schon öfter weh getan hat?" Damit war ich in der Zwickmühle. Was sollte ich sagen? Er hatte mich zu Hause noch nie so verletzt noch so angegriffen. In der Schule dagegen hatte er mich nun schon des öfteren verletzt. "N-nein, d-das ist b-bisher noch nie vorgekommen. Ich h-hätte ihn n-nicht provozieren d-dürfen." "Provozieren?" Ich wischte mir einmal über mein Gesicht. Am liebsten würde ich einfach vor Verzweiflung schreien. "Wir haben uns gestritten und ich habe ihm vieles an den Kopf geworfen. Das hätte ich nicht tun dürfen.", gab ich stotternd und wehmütig zu. "Abby, das ist trotz allem kein Grund jemanden zu verletzen und damit kannst du das auch nicht rechtfertigen. Matthew hat dir mutwillig weh getan. Theoretisch hätte er dich sogar umbringen können.", sagte sie empört und das konnte ich durchaus verstehen. Von außen gesehen hatte das Geschehene eine drastische Dramatik, doch ich wusste tief in mir drinnen, dass Matthew kein Mörder war, auch nicht aus Affekt. Doch ich nickte in der Hoffnung, dass Maggie nun das Thema fallen lassen könnte. "Und es ist wirklich vorher nie etwas derartiges vorgefallen?", fragte sie erneut, um sicher zu gehen. "N-nein, nie.", beteuerte ich. "Okay.", sagte sie leise und es verhallte in der Stille. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass der Film mittlerweile zu Ende war.

Ephemeral danceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt