Kapitel 40

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"Wieso habt Ihr nicht nach Protokoll den Krankenwagen gerufen?" "Weil Abby schnell ins Krankenhaus sollte und ich mein Auto direkt vor dem Ausgang stehen hatte.", erklärte Jonathan schlüssig. Das Gespräch ging nun schon eine Viertelstunde, in der hauptsächlich Jonathan und der Direktor geredet hatten. Bisher lief alles ganz gut aus meiner Perspektive. Der Direktor schien die Situation zu verstehen und fragte nicht groß nach dem Geschehen im Krankenhaus. Ich hatte ihm genau wie Mr. Kellington gesagt, dass ich durch die Schnelligkeit der Aktion und der Dunkelheit im Flur meine Angreifer nicht erkennen konnte und auch niemanden wüsste, der mir so etwas antun würde. Innerlich hatte ich Matthew vor Augen, wie er mir drohte. Ich würde nicht freiwillig ein Wort über die Angreifer verlieren. Denn ich wollte nun wirklich nicht noch mehr Ärger. Jonathan hatte zwischenzeitlich außer Sicht des Direktors meine Hand ergriffen, um mich etwas zu beruhigen. Verrückt, dass man sich als Opfer genauso unter Druck wie ein Täter fühlen kann. "Bleibt noch eine Frage. Wurde die Polizei eingeschaltet?" Der Direktor sah mich ernst an. "Nein, auf meinen Wunsch und nach Absprache mit meinem Onkel haben wir sie nicht eingeschaltet.", offenbarte ich stotternd eine halbe Lüge. Ich spürte den etwas erschrockenen Blick von Jonathan von der Seite, doch ich wusste, dass eine volle Lüge ans Tageslicht gekommen wäre. Der Direktor hätte mit der Polizei telefoniert und dann wären nicht nur Jonathan und ich in Gefahr sondern auch Dr. Brenigan würde durch mich in Schwierigkeiten geraten. Das kann ich nicht gut heißen. "Wie bitte?" Der Direktor sah mich an wie eine Außerirdische und es war klar, dass er für meine Entscheidung kein Verständnis hatte. Doch ich versuchte seinem Blick standzuhalten. Wahrscheinlich wartete er auf eine genaue Erklärung, aber ich wusste selbst nicht, wie ich es begründen sollte, ohne etwas über mein Leben zu offenbaren, dass niemand erfahren sollte. "Sie könnten einfach Abby's Entscheindung respektieren und uns gehen lassen.", warf nun Jonathan genervt ein und ich verfluchte in dem Moment seine respektlose Art gegenüber den Lehrern, denn er brachte damit den Direktor zur Weißglut und würde sich so nur Ärger einhandeln. Der Direktor räusperte sich und schaute wütend zu Jonathan. "Gut, Sie beide sind entlassen. Wenn ich noch Fragen haben sollte, werde ich mich an Sie wenden." Verwundert sah ich den Direktor an. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Wir standen auf und Jonathan lief direkt zur Tür. "T-tschüss.", sagte ich höflich und wand mich ebenfalls zur Tür. "Tschüss.", erwiderte der Direktor zu meiner Überraschung freundlich. Im Flur war keine Spur von Jonathan. Wie konnte er so schnell verschwinden? Also machte ich mich auf den Weg zu Mathe. Eine halbe Stunde des Unterrichts würde ich noch mitbekommen. Doch ehe ich im Nebengebäude ankommen konnte, wurde ich in ein leeres Klassenzimmer gezogen. Erschrocken quietschte ich auf und eine Hand legte sich vor meinen Mund. Ängstlich schaute ich auf zu der Gestalt, die mich hier hinein gezogen hatte und traf auf eisblaue Augen. Erleichtert atmete ich auf. Doch das war sogleich verflogen, als ich den ernsten und besorgten Gesichtsausdruck in seinen Augen sah. Seine Hände legten sich sanft an meine Wangen, die sofort leicht zu glühen begannen. "Abby, hör mir zu. Mir bleibt nicht viel Zeit. Matthew will dir drohen und dir vielleicht etwas antun, damit du Chris nicht verrätst. Bitte pass auf dich auf. Ich versuche ihn heute einzuspannen und nicht aus den Augen zu verlieren, aber ich kann nichts versprechen. Also verhalte dich ruhig, verstecke dich wie immer in der Bibliothek und sei wachsam. Bitte pass auf dich auf." Ich nickte unsicher, während mein Herz wild gegen meine Brust pochte. "Wir sehen uns beim Projekt." Er küsste noch meine Stirn und verschwand dann schnell im Flur. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich meinen Atem angehalten hatte. Nun sank ich an der Wand herunter bis ich auf dem Boden saß. Ich war ihm unheimlich dankbar, dass er zum Großteil das Gespräch mit dem Direktor geführt hatte. Jonathan hatte es geschafft alles schlüssig und plausibel darzustellen. Ich wusste nicht, ob es gut war, dass er lügen konnte wie gedruckt und jeder ihm diese Lügen glaubt, aber in der Situation war es für uns beide von Vorteil. Tief atmete ich aus und seufzte. Es erwärmte mein Herz, dass er sich Sorgen macht und mich vor Matthew beschützen möchte. Jedoch konnte er es ja nicht wissen, dass Matthew mir bereits gestern zu Hause gedroht hatte und mich glücklicherweise nicht weiter verletzt hatte. Trotzdem würde ich dem Rat von Jonathan folgen, denn Matthew war unberechenbar, wenn er wütend ist. Ich will nicht wissen, wie er reagiert, wenn er von dem Gespräch mit dem Direktor erfährt. Er wird mich so lange festhalten, bis er sich hundertprozentig sicher ist, dass ich Chris nicht mit einem Wort oder nur einer Andeutung erwähnt habe. Zwar war Jonathan mein Zeuge, aber vor Matthew würde diese Tatsache vielleicht nur zu noch größeren Problemen führen. Verzweifelt griff ich mir in die Haare und zerstörte so meinen Zopf. Am liebsten würde ich einfach direkt gehen. Jonathans Berührungen konnte ich noch immer spüren. Es war verrückt, wie sehr er mich beeinflussen konnte. Vorsichtig stand ich auf und trottete nun zur Mathestunde, die sich schon fast dem Ende neigte. Vor der Tür entschied ich mich um und lief in die Bibliothek. Hier würde ich die Pause über sicher sein und ich könnte Matthew zu Hause fragen, ob er mir sagen kann, was sie in Mathe gemacht haben. Naja, wenn er aufgepasst hat und das bezweifle ich stark. In der Pause verlor ich mich in der Welt des Buches und schreckte hoch, als es zum Stundenbeginn klingelte. Schnell rannte ich zur Chemiestunde und schaffte es von vielen unbemerkt durch den Flur zu laufen. Im Chemieraum fiel mir plötzlich ein, dass Jonathan die Stunde neben mir sitzen würde. Also setzte ich mich etwas beruhigt an meinen Tisch und wartete. Doch Jonathan erschien nicht zur Stunde. Ich wusste, dass er öfter Stunden schwänzt und dann mit den Jungen aus dem Footballteam draußen ist. Meistens rauchen sie dann auf dem Parkplatz. Ich konnte nicht verhindern, dass ich mir trotzdem etwas Sorgen um ihn machte. In der Stunde konnte Angelika es nicht lassen mir fiese Sprüche an den Kopf zu werfen. Sie schaffte es immer, dass ich mich erbärmlich fühlte, auch wenn ich versuchte mir dies nicht anmerken zu lassen. Die nächsten Schulstunden plätscherten so vor sich hin. In der Pause hatte ich mich erneut in der Bibliothek versteckt und stand nun ganz hinten in der Schlange bei der Essensausgabe. Bereit mir wie immer meine Beilage zu kaufen, stellte die nette ältere Dame hinter dem Tresen erneut die Hauptspeise auf mein Tablett. "Ist bereits bezahlt.", sagte sie lächelnd und zwinkerte mir zu. Ich nickte ihr dankend zu und lief hinaus zu der abgelegenen Tischtennisplatte. Dort aß ich still und leise. Ich genoss die Ruhe und freute mich, dass es nicht regnete. Der Wind war frisch, aber das heiße Essen wärmte mich von innen. Ich hatte Jonathan nicht mehr gesehen, auch nicht in der Cafeteria. Aber er muss dort gewesen sein, sonst hätte er nicht wieder mein Essen bezahlen können. Ich seufzte, wie sollte ich mich nur je für seine Hilfe revanchieren? Wachsam brachte ich das Tablett zurück und lief zum Kunstraum, in dem zu meinem Glück noch niemand war. Die Stunde würde erst in gut einer Viertelstunde beginnen. Ich schaute aus dem Fenster ins dunkle nicht enden wollende Grau der Wolken, die den Sonnenstrahlen den Weg versperrten. Es wirkte wirklich trostlos dort draußen und gerade diese Tatsache erinnerte mich doch stark an mein Leben. Die einzigen Lichter momentan sind Mom und Jonathan. Doch bei ihm konnte ich mir nicht sicher sein, was seine Absichten sind. Zwar hat er mir in der letzten Woche nur Gutes getan, aber wie sicher war dies? Ich wusste ja nicht mal, was wir beide nun sind. Sind wir Freunde? Plötzlich legten sich zwei Arme sanft um mich. Erschrocken zuckte ich zusammen. "Alles gut, Abby. Ich bin es nur." Jonathans raue Stimme erzeugte eine Gänsehaut auf meiner Haut. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und zog mich enger an sich. "Man könnte uns sehen.", flüsterte ich stotternd. "Nein, die Stunde beginnt erst in zehn Minuten." Ich konnte es nicht verhindern, dass mich seine Aussage enttäuschte. Denn ich hatte die naive leise Hoffnung, dass er sagen würde, dass es ihm egal wäre. Dabei wusste ich, dass es ihm alles andere als egal ist. Der Kapitän des Footballteams und Badboy der Schule gibt sich nun mal nicht mit dem Streber ab. Ich spannte mich bei dem Gedanken etwas an. "Was ist los? Sonst genießt du meine Berührungen.", flüsterte er schon fast enttäuscht. "Ich, ich b-bin einfach et-etwas angespannt wegen M-matthew." Ich fühlte mich schlecht, dass ich log, aber ich war zu feige, um ihm die Wahrheit zu sagen. Sanft drehte er mich in seinen Armen um und sah mich beruhigend an. "Du brauchst dir keine Sorgen machen. Matthew hat schon Schulschluss. Er ist weg." Ich nickte und versuchte ihm ebenfalls ein Lächeln zu schenken. Plötzlich hörte man Schritte vor dem Raum und sofort löste sich Jonathan von mir. Die Tür ging auf, die ersten Schüler kamen herein und Jonathan stand nun zwei Meter von mir entfernt, als sei ich ansteckend. Er schaute mich nicht mal mehr an. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, brach mein Herz durch sein Handeln. Traurig schaute ich auf meine Füße und Wut sammelte sich in meinen Bauch. Doch es war keine Wut auf Jonathan, nein, ich war wütend auf mich.

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