Kapitel 60

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Am Morgen erwachte ich durch die zärtlichen Berührungen einer warmen Hand auf meiner Wange. Meine Augen flatterten auf und mattes Braun traf auf Eisblau. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, denn er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Tief in der Gedankenwelt versunken, hatte er noch gar nicht bemerkt, dass ich erwacht war. Also ergriff ich unsicher seine Hand und schreckte ihn so auf. Ein schwaches Lächeln legte sich auf seine Lippen. "G-Guten Morgen.", flüsterte ich in den stillen Raum. Er erwiderte es mit seiner rauen Morgenstimme. "Wie hast du geschlafen?", erkundigte er sich, während er mich besorgt musterte. "G-ganz g-gut.", gab ich ehrlich zu, doch fühlte ich mich durch sein Verhalten und seinen prüfenden Blick mehr als verunsichert. Nun herrschte Stille. Es gab keine Antwort oder Reaktion von ihm, bis er sich plötzlich nervös in den Nacken fasste. "Abby, ich muss gleich schon los, aber ich würde heute Abend zurück kommen." Nun schwebten viele kleine Fragezeichen durch meine Gedanken. Warum verhielt er sich so merkwürdig? Hatte ich etwas falsch gemacht? Und wo muss er so plötzlich hin? Warum ist er deshalb nervös? Ist er überhaupt deshalb nervös oder wegen etwas anderem? War er so komisch, weil er weg muss? Wenn er später zurückkommen würde, kann es ja nicht an mir liegen, oder? Fragen über Fragen und doch konnte nur Jonathan diese beantworten, jedoch bezweifelte ich stark, dass er dies einfach so tun würde. In meiner Magengrube bildete sich ein schweres Gefühl. Das Gefühl, dass er irgendetwas vor mir verbergen könnte und dass das alles andere als gut war. "Wo musst du hin? Triffst du dich mit jemandem?", fragte ich stotternd, vorsichtig und wahrscheinlich viel zu neugierig. "Das geht dich nichts an.", sagte er schroff und stand auf. "Willst du mich kontrollieren?" Verwirrt und verletzt von seiner harschen Reaktion wich ich etwas zurück. "N-nein, t-tut m-mir l-leid." Er zog sich seinen Pullover über und seine Sneaker. Dann ergriff er seine Tasche und ging Richtung Tür. "Willst du jetzt einfach so gehen?", fragte ich traurig und stotternd. Unsicher blieb er stehen und schaute kurz zurück zu mir. "Bis später.", sagte er kalt und doch blitzte für den Hauch eines Momentes Reue durch seine Augen. Vollkommen verwirrt, verletzt und perplex ließ er mich zurück. Was war nur in ihn gefahren? Nichts von dem liebevollen und verständnisvollen Jonathan von heute Nacht war übrig in seinem heutigen Verhalten. Ich verstand die Welt nicht mehr und als erste Tränen meine Wangen hinunter liefen, wurde mir wieder schmerzlich bewusst, dass mir dieser Junge viel zu sehr ans Herz gewachsen war. Mein Herz lag nun zum Stück in seinen Händen und ich konnte mir gerade nicht mehr sicher sein, ob es dort gut aufbewahrt wird. Angst überkam mich und ich schüttelte meinen Kopf, um die verwirrenden und verletzenden Gedanken loszuwerden. Wahrscheinlich hatte ihn irgendetwas anderes so aufgewühlt und es lag gar nicht an mir. Den Morgen verbrachte ich damit mir dies immer wieder einzureden bis Matthew mit einer kleinen Tasche in der Tür stand. Ich war noch immer sauer auf ihn und doch war ich ihm dankbar, dass er mir Anziehsachen und meine Badutensilien mitgebracht hatte. Mit seiner Hilfe humpelte ich ins Badezimmer. Matthew ließ mich zurück, damit ich Zeit hatte mich frisch zu machen. Durch die Tatsache, dass Matthew hier war, musste ich eine meiner Theorien, wo Jonathan wohl so dringlich hin gemusst hatte, streichen, denn Matthew war hier und nicht bei Jonathan. Also wusste ich noch immer nicht, wo Jonathan ist. Etwas erfrischt strauchelte ich aus dem Badezimmer zurück in mein Bett. Mein Kreislauf machte mir schon den gesamten Morgen zu schaffen abgesehen von den Schmerzen in meinen Beinen durch die Prellungen. Erleichtert lehnte ich mich zurück ins Kissen und sah zu Matthew, der mich ernst ansah. "Ich habe mit Pieter bzw. Dr. Klopp gesprochen. Wie ich es erwartet habe, wird er weiterhin das Geld von dir fordern. Schließlich ist das die Gegenleistung für seine Dienste. Dass du heute nicht zur Arbeit erscheinen kannst, bedauert er zu tiefst und wünscht dir gute Besserung. Jedoch soll ich dir ausrichten, dass er Dienstag fest mit dir rechnet. Der Schuldenberg wird ja nicht kleiner." Ich saß da und wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Diese Dreistigkeit schnürrte mir die Kehle zu und Verzweiflung drückte schwer auf mein Herz. "Wieso bist du mit diesem Mann befreundet?", rutschte es mir einfach vollkommen verständnislos heraus. "Nicht jeder hat eine Dr. Brenigan, die vor lauter Mitleid die Krankenhausrechnungen zahlt. Ich musste immer kämpfen, Abby, immer! Niemand hat sich um meine Verletzungen gekümmert. Ich musste mich selbst versorgen. Also verurteile mich nicht für etwas, was du Naivchen nicht mal in deinen Träumen verstehst. Ich habe dir geholfen und Pieter hat dich versorgt. Zeige dich lieber dankbar, sonst helfe ich dir nicht mehr.", sagte Matthew wutentbrannt. Während seine Rede war er aufgestanden und stand nun am Fußende des Bettes. Er umklammerte dieses so stark, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Seine Augen glühten vor rasender Wut. Ich war zurück gewichen und kauerte mich nun am Kopfende zusammen. Er machte mir Angst und das bemerkte er nicht mal oder er wollte es gar nicht. Doch dann sah er mir in die Augen und sein Griff wurde lockerer. "Danke, dass du mir meine Sachen vorbei gebracht hast.", stotterte ich leise. Etwas verwirrt sah er mich an und man konnte förmlich sehen, wie die Wut ihm entwich. "Übrigens in zwei Wochen werde ich 18. Ich habe mir eine Wohnung besorgt und bin dann weg. Es tut mir leid Abby, aber im Überlebenskampf muss man egoistisch sein und ich halte es nicht länger mit meinem Erzeuger aus.", erklärte er, als wäre es nichts Weltbewegendes, dabei war es für mich genau das. Dann würde ich meinem Onkel vollkommen schutzlos ausgeliefert sein. "Bitte nicht, Matthew." "Abby, du würdest an meiner Stelle dasselbe tun. Ich muss jetzt auch los, denn ich muss noch einiges regeln und in der neuen Wohnung noch viel renovieren." Damit lief er Richtung Tür und ich wusste nicht warum, aber mich überkam plötzlich die Wut. "M-matthew!" Irritiert hielt er inne und drehte sich zurück zu mir. "Du weißt, dass du vorhin Schwachsinn erzählt hast. Du warst und bist nie vollkommen allein gewesen. Jonathan stand immer hinter dir und wollte dir immer helfen. Ich bin mir sicher, Dr. Brenigan hätte dir auch geholfen, aber man muss sich auch helfen lassen. Ich weiß, dass Jonathan dir Schmerzmittel besorgt und von der Gewalt weiß. Er hätte dir geholfen.", stotterte ich wütend, doch vielleicht hätte ich lieber meinen Mund halten sollen. Matthew raste zurück zu mir und riss mich aus meinem Bett. Wutentbrannt drückte er mich gegen die Wand. Mein Kopf kollidierte schmerzhaft mit der harten Wand. Mein Sichtfeld begann sich zu drehen und mein Hinterkopf pochte unangenehm. Seine Augen glühten mich giftig grün an. Seine rechte Hand schlang sich plötzlich um meinen Hals und drückte mir die Luft ab. All das menschliche Licht war seinem Blick entwichen und das Monster in ihm sah mich an. Tränen sammelten sich in meinen Augen. "Du weißt gar nichts! Und ich sage es dir jetzt zum letzten Mal, halte dich fern von Jonathan!", brüllte er mich an und verstärkte seinen Griff. Meine Lunge begann zu brennen und meine Ohren zu rauschen. "Matthew! Lass sie sofort los!", schrie eine erschrockene Dr. Brenigan, die zur Tür herein gekommen sein musste. Sie rannte auf uns zu. Matthew schaute zu ihr und dann zurück zu mir. Erschrocken riss er seine Augen auf, wurde leichenbleich und ließ mich los. Hustend fiel ich zu Boden und Dr. Brenigan versuchte mich aufzufangen. Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie Matthew hinaus rannte. Ich krallte mich an Dr. Brenigan und begann hemmungslos zu weinen. Diese umklammerte mich noch immer unter Schock. Es war meine Schuld. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich hätte Matthew nicht so angreifen dürfen. Ja, es war meine Schuld. Er hat mich noch nie zuvor so angegriffen. Immer mehr Tränen flossen meine Wangen hinunter. Wie benommen versuchte Dr. Brenigan sich selbst zu beruhigen. Sie verstand wahrscheinlich noch immer nicht, was gerade vor ihren Augen geschehen war. Doch wie sollte ich ihr das erklären?

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