Kapitel 43

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Nach dem Jonathans Auto in der Dunkelheit verschwunden war und ich mir sicher sein konnte, dass er meine richtige Adresse nicht erfahren kann, lief ich nach Hause. Ich war noch nicht mal ganz auf dem Grundstück, als ich schon das Gebrülle von meinem Onkel im Haus hörte. Ängstlich lief ich zur Tür und öffnete sie. "Du kannst auch nichts! Räum das weg! Und wo zum Teufel ist die kleine Schlampe? Ich will gleich essen!" Zitternd zog ich meine Schuhe aus und trat aus dem Schatten hervor. "Endlich! Wo warst du verdammt? Geh in die Küche, Missgeburt!", brüllte er aus glühenden Augen. In ihnen spiegelte sich der konstant hohe Alkoholpegel und er stank fürchterlich nach einer Mischung aus Alkohol, Rauch und Schweiß. Er brauchte mich nicht zweimal bitten. Also verschwand ich schnell in der Küche und lief dabei an einem gepeinigten Matthew vorbei, der die Scherben von einem Glas aufhob. Schnell holte ich alles, was ich benötigte für das Abendessen und stellte den Herd an. Dann holte ich das Kehrblech und einen Besen, um Matthew im Flur zu helfen. Der hockte noch immer vor dem Haufen Scherben, als wäre er in einer anderen Welt. Seine Hände zitterten und seine Augen waren leer. Vorsichtig tippte ich ihn an, weshalb er etwas aufschreckte. Mit einer Geste verdeutlichte ihm, dass ich mich um die Scherben kümmern würde. Langsam stand er auf und lief in die Küche, während ich mich hin hockte und die Scherben zusammen suchte. Egal, wie sehr Matthew mir schon weh getan hat und wie oft er mich noch verletzen wird, er hat das nicht verdient. Der eigene Vater sollte einen lieben und gut behandeln. Er sollte stolz auf seinen Sohn sein. Ich seufzte leise und eilte nun mit dem vollen Kehrblech in die Küche. Dort schmiss ich die Scherben in den Müll und kümmerte mich weiter um das Essen. Immer wieder schaute ich prüfend zu Matthew, der nun schon mehr Farbe im Gesicht hatte. Ich machte mir ziemliche Sorgen um ihn, also ergriff ich die Chance, als alles gerade vor sich her köchelte und setzte mich zu ihm. Sanft ergriff ich seine Hand. Sofort schaute er mich etwas irritiert an. "Was ist passiert?", stotterte ich. "Ich habe das Glas fallen gelassen, was ich ihm bringen sollte, weil ich über seine Tasche gestolpert bin. Dann ist er ausgerastet und hat mich beschimpft. Er hat mir gesagt, wie sehr er sich wünscht, dass ich nicht existieren würde und dass ich ihn nur enttäusche." Matthew klang so gebrochen und traurig, dass es mir das Herz zerriss. Ohne weiter nachzudenken, zog ich ihn in eine kurze Umarmung, die er dankend annahm. Ich löste mich von ihm und begann den Tisch zu decken. Pünktlich als mein Onkel polternd die Küche betrat, hatte ich das Essen fertig auf dem Tisch. Ohne etwas zu sagen, setzte er sich und aß. Erleichtert atmete ich aus und nahm mir meine übliche kleine Portion. Matthew nahm sich ebenfalls kaum etwas zu essen, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass ihm der Hunger nach den vorherigen Geschehnissen vergangen war. Nach dem Essen räumte ich ab. Ich hatte gerade begonnen das Geschirr zu spülen, als die Tür erneut aufschlug. Im nächsten Moment wurde ich an meinem Zopf harsch zurückgezogen, sodass ich schmerzerfüllt aufschrie. "Die Wäsche ist nicht gewaschen und das Wohnzimmer war nicht richtig sauber. Du hattest nur eine dumme Aufgabe, du Miststück!" Er brüllte so laut, dass meine Ohren schmerzten. Aus hasserfüllten Augen sah er mich an und schubste mich mit voller Wucht gegen den Kühlschrank. Dann kam der erste Tritt gegen die Beine, sodass ich mein Gleichgewicht verlor. Tränen strömten aus meinen Augen und ich schrie, aber er hörte einfach nicht auf mich zu treten. "S-stopp.", flehte ich immer wieder, aber es nahm kein Ende. Mein Kopf begann vor Schmerzen zu dröhnen. Schützend versuchte ich meine Hände vor meinen Bauch zu legen. "Mach deine Aufgaben das nächste Mal vernünftig, Schlampe oder ich nehme dir alles Geld für deine missratende Mutter weg und sie muss leider sterben." Erste schwarze Punkte bildete sich in meinem Sichtfeld. Trotzdem sah ich voller Angst, wie er noch einmal ausholte und ein letzter Tritt gegen meine Hände erfolgte. Es knackte fürchterlich in meiner Hand und ich schrie bitterlich weinend auf. "Halt dein Maul!" Damit verschwand er im Flur und knallte die Tür zu. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Meine Hände und Arme schmerzten so fürchterlich, dass es mir kalt den Rücken herunter lief. Dafür war ich mir sicher, dass ich meinen Bauch diesmal gut schützen konnte. Ich versuchte mich aufzusetzen, aber der stechende Schmerz in meiner Hand hielt mich auf. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu schreien, damit er nicht zurück kommt. Im nächsten Moment schmeckte ich Blut und hätte mich am liebsten übergeben. Vorsichtig stützte ich mich mit meiner rechten Hand ab, die es weniger schlimm erwischt hatte und schaffte es mich aufzusetzen. Irgendwie konnte ich mich aufraffen und das Geschirr mit rechts zu Ende spülen. Plötzlich ging die Tür erneut auf und ich schreckte vor Angst zurück. "Hey, ich bin es nur. Wie schlimm hat es dich erwischt?" Ich drehte mich vorsichtig um und sah in das schockierte Gesicht von Matthew. Sofort eilte er zu mir und zog mich in seine Arme. Ich zog vor Schmerz scharf die Luft ein und begann wieder zu weinen. "Scheiße Abby.", flüsterte Matthew noch immer geschockt. Vorsichtig löste er sich von mir, um mir nicht weiter weh zu tun. "Zeig her.", forderte er und ich hielt ihm meine Hände hin. Meine linke Hand war bereits stark geschwollen und blau. "Scheiße.", flüsterte er. "Abby, die Hand sieht gebrochen aus. Scheiße, du musst ins Krankenhaus." Ich schüttelte weinend und panisch den Kopf. "Setz dich!" Matthew nahm das Geschirrhandtuch und trocknete in Hochgeschwindigkeit alles ab. Dann räumte er es weg und kam zu mir. Ich hatte die gesamte Zeit über auf dem Stuhl gesessen und versucht nicht weiter zu weinen. Aber der rasende Schmerz und das Pochen meiner linken Hand trieben immer wieder neue Tränen in meine Augen. "Komm.", flüsterte er und hob mich einfach hoch. Er trug mich zum alten Transporter von seinem Vater. Eigentlich war es ein Haufen verosteter Schrott, der erstaunlicherweise noch fuhr und nicht bei der Fahrt auseinander fiel. Matthew setzte mich auf den Beifahrersitz und stieg dann selbst ein. Er startete den Wagen und fuhr los. "Dann beten wir mal, dass mein Erzeuger schläft und wir keinen weiteren Ärger bekommen." Seine Stimme war gepresst, als wäre er unheimlich sauer, aber ich konnte ihm kaum zu hören. Die Schmerzen hielten mich davon ab, mich zu konzentrieren. "Dieser Mistkerl! Er soll in der Hölle verrotten." Das war nur einer der vielen Flüche, die Matthew sich während der Autofahrt vom Herzen sprach. Ich versuchte mich dagegen auf der Fahrt auf meine Atmung zu konzentrieren und mich an einen anderen Ort zu denken. Erschrocken musste ich mir eingestehen, dass das erste, das mir in den Sinn kam, Jonathan war. Ich wollte bei ihm sein, denn da würde es mir besser gehen. Bei ihm wäre mir nichts passiert. Er hätte mich vermutlich beschützt. In meiner Vorstellung tanzte ich meine Choreographie, die ich damals bei der Audition tanzen wollte und am Ende standen Jonathan und meine Eltern klatschend auf. Ich schaffte es tatsächlich mich ein wenig vom Schmerz abzulenken, doch sobald mir klar wurde, dass meine Gedanken reinste surreale Fantasie war, zerriss es mir das Herz. Neue Tränen bildeten sich hinter meinen geschlossenen Augen. Plötzlich wurde der Wagen langsamer und das Rütteln des Motors verstummte. Verwirrt schaute ich mich um. Das war nicht das Krankenhaus. "Du wolltest nicht ins Krankenhaus. Das ist die chirurgische Praxis von Pieter. Der hat mich auch schon paar mal zusammen geflickt. Er ist seriös und man kann ihn unter der Hand für seine Leistungen bezahlen.", erklärte Matthew flüsternd, als hätte er Angst, dass uns jemand hören könnte. Unsicher nickte ich. Wir waren in einem reicheren Viertel der Stadt und trotzdem wirkte das hier alles andere als seriös. Vielleicht ist Dr. Brenigan doch die bessere Option? Matthew öffnete meine Tür und half mir aus dem Auto. Er stützte mich und zusammen humpelten wir zum Eingang. Matthew klingelte nicht bei der Praxis sondern an der Klingel zur Wohnung. Kurze Zeit später kam ein junger Mann in Schlafanzug und Bademantel an die Tür. "Matthew? Was machst du hier?", fragte er besorgt. Pieter, wie Matthew ihn genannt hat, hatte einen gepflegten drei Tage Bart und schwarze kurze Haare. Seine dunklen blauen Augen musterten uns intensiv. "Wir brauchen deine Hilfe." Sein Blick fiel auf mich und er zog seine Augenbrauen zusammen, während er mich prüfend von oben bis unten ansah. "Kommt hinein, gebt mir fünf Minuten. Matthew, du kennst ja den Weg." Er trat bei Seite und ich lief an der Seite von Matthew hinein. Hoffentlich war das hier die richtige Entscheidung.

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