Kapitel 2

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Durch ein lautes Klopfen wurde ich unsanft geweckt. Das war mein Signal aufzustehen. Jeden Morgen klopft Matthew genau dreimal an meine Tür, da ich keinen Wecker besitze. Schnell stand ich auf und rannte ins kleine Badezimmer, um mich zu duschen. Das Wasser war eiskalt, weshalb ich mich noch mehr beeilte. Zitternd stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und putzte meine Zähne. Ich hatte nur 10 Minuten Zeit im Bad sonst würde Matthew sauer werden. Schnell rannte ich zurück in mein Zimmer, zog mir meine alte verwaschene blaue Jeans an und einen schwarzen großen Pullover. Meine teuren guten Klamotten habe ich zum Großteil verkauft, um Geld zu sparen. Außerdem eigneten sich die großen Pullover, um meine blauen Flecken und Verletzungen zu verdecken. Mir war bewusst, dass meine Kleidung mein Image nicht verbessern würde, aber das Geld für Mom war mir wichtiger. Ich machte meine Haare zu einem geflochtenen Zopf und setzte die Kapuze von meinem Pullover auf. Mit meinem Rucksack in der Hand, machte ich mich leise auf den Weg zur Küche. Im Wohnzimmer lag mein Onkel schnarchend auf der Couch. Um ihn herum lagen mehrere leere Bierdosen. So leise wie möglich schlich ich in den Raum und sammelte sie auf. Danach lief ich in die Küche, wo ich sie in einen großen Plastikbeutel warf, indem alle Pfandflaschen gesammelt werden. Ich schnappte mir einen Apfel und lief los. Der Weg zur Schule war ähnlich lang und zum Großteil derselbe wie zum Krankenhaus. Es war kalt und ich verfluchte mich, dass ich meine Handschuhe in meinem Zimmer vergessen hatte. Mein Schal zog ich höher, um mein Gesicht besser vor der beißenden Kälte zu schützen. Den Reißverschluss meiner Jacke versuchte ich ebenfalls höher zu ziehen, aber er war schon bis oben hin zu. Ich fröstelte und steckte meine Hände in meine Jackentaschen. Mein Gang verschnellerte sich, um mich durch das Laufen aufzuwärmen. Doch die Kälte fraß sich langsam durch meine Kleidung. An der Schule angekommen, zitterte ich und meine Wangen waren bestimmt rosa durch die Kälte. Schnell lief ich geduckt zu meinem Spind in der Hoffnung, dass mich niemand sehen würde. Erleichtert kam ich unversehrt am Spind an, schnappte meine Bücher und eilte zu meinem Klassenraum. Es war zum Glück noch niemand da, weshalb ich ausatmete und mich etwas entspannte. Etwas ruhiger ging ich nun zu meinem üblichen Platz weiter hinten am Fenster. Dort fühlte ich mich sicher und versteckt, doch dieses Gefühl hatte mich schon mehrere Male betrogen. Ich war in der Schule nirgends sicher vor gemeinen Sprüchen, fiesen Blicken und vor Demütigungen. Der Stuhl knarrte leise, als ich mich setzte. Nach und nach strömten die ersten Schüler in den Klassenraum. Zum Glück ignorierten sie mich. Meine Haltung wurde lockerer, trotzdem wagte ich es nicht hoch zu sehen bis der Lehrer herein kam. Die Klasse wurde abrupt still. Die erste Stunde für heute war Geschichte, mein Lieblingsfach. Der Lehrer, Mr. Kellington, war alles andere als langweilig. Er schaffte es durch Filme und seine spannenden Erzählungen, die lang vergangene Geschichte in unserem Klassenraum wieder lebendig zu machen. Er war noch jung und gestikulierte stets wild mit seinen Händen, wenn er über die Lehrinhalte sprach. Er gab uns interessante Hausaufgaben. Einmal sollten wir versuchen einen Brief aus der Perspektive einer Person während der französischen Revolution zu schreiben oder ein andermal durften wir einen Film schauen und Notizen machen. Natürlich mussten wir auch bei ihm Aufsätze schreiben aber seine Thematiken, die er für uns wählte, waren abwechslungsreich und ließen einen ins Nachdenken über die Welt kommen. Meine Liebe für Geschichte bestand auch in der Ironie ihrerseits. Wir haben die Geschichte nicht miterlebt, wir bekommen sie erzählt, formuliert von den Gewinnern der Geschichte. Also erhalten wir stets nur eine Perspektive und können uns nicht erschließen, was wirklich geschehen ist. Die Geschichte besteht eigentlich aus Millionen von individuellen Wahrheiten doch unser Geschichtsunterricht beschränkt sich auf die berühmtesten hundert Sichtweisen. Außerdem lässt es mich jedes Mal schmunzeln, wenn ich feststellen muss, dass die Menschheit nicht viel aus der Geschichte gelernt hat, obwohl sie eine Sammlung von Wissen ist, die wir nutzen könnten. Während ich kurz in meinen Gedanken versunken war, hatte Mr. Kellington ein Tafelbild erstellt, dass ich nun eifrig abzeichnete. Erschrocken zuckte ich zusammen, als mich eine Papierkugel am Hinterkopf traf. Daraufhin erfolgte leises Gelächter. Ich hatte wirklich für ein paar Minuten vergessen, dass Matthew zwei Reihen hinter mir saß mit seinen Freunden aus dem Footballteam. Ich versuchte mich kleiner in meinem Stuhl zu machen, um ihnen weniger Möglichkeiten zu bieten mich mit weiteren Papierkugeln zu treffen. Zu meinem Erstaunen blieb es die einzige Kugel. Als es klingelte, rannten alle förmlich aus dem Klassenraum, während Mr. Kellington alle gehetzt erinnerte, ihre Hausaufgabe abzugeben. Als die meisten zur Tür hinaus gestürmt waren, machte ich meinen Weg nach vorne. Mr. Kellington lächelte mich freundlich an und nahm mir meine Hausaufgabe ab. "Auf deine Arbeit freue ich mich bereits. Du bist sehr klug, Abby. Du solltest dich öfter mündlich beteiligen." Ich nickte nur verunsichert und versuchte ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Dann drehte ich mich um und lief schnell hinaus, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Wie sollte ich mich  mündlich beteiligen, wenn ich nicht ein Wort ohne Stottern heraus bekomme geschweige denn einen ganzen Satz? Selbst wenn ich normal reden könnte, würde ich mich nicht trauen zu reden. Gedankenverloren machte ich mich auf den Weg zu meiner nächsten Stunde. Kurz bevor ich ankam, stolperte ich und fiel fast zu Boden. Gerade konnte ich mich noch fangen. Verunsichert drehte ich mich um. Melania hatte mir ein Bein gestellt. "Pass auf, wo du hin gehst, Streber!", zischte sie mich mit vor Wut funkelnden Augen an. Im Flur begannen alle zu lachen. Schnell rannte ich förmlich in den Klassenraum und setzte mich auf meinen Platz. Es war pure Ironie, dass Melania mich Streber nannte. Sie war Jahrgangsbeste, ist Vorsitzende des Debattierklubs und Cheerleaderin. Zudem war sie überaus schön. Sie hatte reine gebräunte Haut, war schlank und hatte langes gewelltes schwarzes Haar. Dagegen war ich ein nichts. Ich versuchte die Demütigung herunterzuschlucken und mich auf Mathe zu konzentrieren. Doch das war wirklich schwer, da ich alle drei Minuten mit einer Papierkugel beworfen wurde. Ich versuchte sie so gut es ging zu ignorieren, damit sie den Spaß verlieren, aber ich hörte stets Gelächter von hinter mir und scheinbar  hatten sie daraus ein Spiel entwickelt. So hörte ich immer wieder einen der Jungs leise rufen: "10 Punkte", wenn sie mich am Kopf getroffen hatten. Die Mathelehrerin bekam nichts davon mit, da sie uns die meiste Zeit den Rücken zu gedreht hatte und lauter Formeln an die Tafel schrieb. Ich war nicht schlecht  in Mathe aber auch nicht besonders gut. Mit diesem Thema hatte ich jedoch Glück, es fiel mir leicht. Als es endlich klingelte, schaute ich auf den Boden und um meinen Stuhl herum hatte sich ein Meer aus Papierkugeln gebildet. Als ich gehen wollte, hielt mich Ms. Meyer auf. "Abby, räumen sie bitte ihren Platz auf. Sie können so nicht gehen." Ich seufzte gequält, nahm den Papierkorb vorne neben der Tafel und sammelte Kugel für Kugel auf. Das kostete mir 10 Minuten meiner Pause. Jedoch bescherte es mir auch 10 Minuten Sicherheit unter den wachsamen Augen von Ms. Meyer. Auf dem Flur hörte man lautes Reden und ich lief geduckt zu meinem Spind. Um mich in der Bibliothek zu verstecken, war es schon zu spät. Also diskutierte ich innerlich mit mir selbst, ob ich schon zum nächsten Klassenraum gehen sollte oder noch kurz frische Luft schnappen sollte. Meine Gedanken wurden unterbrochen durch ein heftiges Schubsen, dass mich gegen die Spinde schleuderte. Ich fiel zu Boden und versuchte mich aufzufangen. "Geh mir aus dem Weg!", schrie Matthew und lief an mir vorbei. Alle lachten und Matthew schlug triumphierend bei seinen Jungs ein. Tränen schossen mir in die Augen, da ich mit meiner Schulter hart gegen den Spind geprallt war und diese von den letzten Tritten meines Onkels noch schmerzte. Ich begann zu zittern bei den Erinnerungen an die schmerzenden Tritte. Schnell raffte ich mich auf und rettete mich schnellen Schrittes in den nächsten Klassenraum. Ich hörte einige sagen, dass ich erbärmlich sei und ich jetzt bestimmt weinen würde. Doch ich blinzelte die Tränen weg und zog scharf die Luft ein, da es noch immer schmerzhaft durch meinen Schulter- und Rückenbereich zog. Ich wischte mir über die Augen, atmete tief durch und machte mich schlussendlich auf den Weg zur Chemiestunde.

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