Kapitel 75

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Perplex schaute ich zu der Person im Auto. "Abby, soll ich dich mitnehmen? Ich möchte nicht, dass du allein bei der Kälte und Dunkelheit nach Hause läufst.", fragte mich eine besorgte Maggie Brenigan. Angst überkam mich. Hatte sie bemerkt, dass ich gelauscht hatte? Hatte sie mich gesehen? Doch trotz der Angst stieg ich zu ihr ins Auto, denn ich wusste, dass sie recht hatte. Sie fragte nicht nach meiner Adresse, sondern fuhr einfach los. "Wie war dein Tag, Abby?" Maggie lächelte mich an, doch ich sah, dass ihr das Gespräch von vorhin noch zu schaffen machte. "G-ganz gut, Jonathan u-und ich h-haben auf unser Pr-projekt eine eins b-bekommen. Wir h-hatten d-die b-beste Arbeit von allen.", gab ich preis. Ich hatte die leise Hoffnung, dass sie es Jonathan erzählen würde und er sich dann bei mir melden könnte, doch ich wusste die Chance war gering. "Wie wundervoll!", sagte sie überglücklich. Wenigstens konnte ich ihr mit dieser Nachricht eine Freude machen. "Die Eintrittskarte für die Spendengala muss er sich noch von Ms. Mabel oder Mr. Klifford abholen.", erklärte ich stotternd. "Das ist kein Problem. Wir haben schon Eintrittskarten. Die ganze Familie wird zu der Gala gehen. Wir und das Team vom Krankenhaus wollen auch spenden." "D-das ist sch-schön.", murmelte ich. Also würde Jonathan auf jeden Fall da sein. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen oder eher Zweifel und Bedenken haben sollte. "Jonathan kommt morgen wieder zur Schule. Ihm ging es heute morgen nicht so gut." Ich nickte verstehend. "W-woher w-weißt du, w-wo ich wohne?", platzte es dann endlich aus mir heraus, als sie wieder ohne zu fragen den richtigen Weg einschlug. "Ich habe Matthew oft abgeholt und nach Hause gefahren, wenn er bei uns war.", erzählte sie lächelnd, aber ihre Augen verbirgten ein Geheimnis. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass hier noch mehr dahinter steckte. Aber Maggie hatte mir deutlich gesagt, dass ich allein Jonathan nach seiner Vergangenheit fragen sollte. Mir war es nämlich noch immer ein Rätsel, wie Jonathan und Matthew sich kennengelernt hatten. Schließlich kannten sie sich ja wohl schon von klein auf. Kurz vor unserem Haus blieb Maggie stehen und ließ mich hinaus. "Pass auf dich auf Abby.", sagte sie zum Abschied. "Ja, a-auf W-wiedersehen und d-danke.", stotterte ich als Antwort. "Immer wieder gern.", damit schloss ich die Tür hinter mir und Maggie fuhr los. Etwas betrübt und ängstlich lief ich zu meinem Zuhause. Mit zitternden Fingern ergriff ich die Türklinke und trat herein. Es war unheimlich still im Haus. Auf leisen Sohlen tapste ich in die Küche und begann zu kochen. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Erschrocken zuckte ich heftig zur Seite und schrie auf. Im nächsten Moment legte sich eine große Hand an meinen Mund, um meinen Schrei verstummen zu lassen. Mit weit aufgerissenen Augen erblickte ich die Person vor mir. Matthew sah mich aus seinen leuchtenden grünen Augen an. Seine Mimik war schwer zu deuten. Ich wusste nicht, ob er noch immer immens wütend auf mich war. "Ich muss mit dir sprechen.", sagte er ernst. Eingeschüchtert nickte ich nur. "Ich habe gerade meine letzten Sachen abgeholt und bringe sie zur Wohnung. Mein Geburtstag ist zwar erst in einer Woche, aber ich halte es hier nicht mehr aus. Ich möchte, dass du kein Wort darüber verlierst." Wieder nickte ich und konnte mich noch immer in seinem festen Griff kaum rühren. Dann löste er eine seiner Hände von mir, griff in seine Hosentasche und holte einen kleinen silbernen Schlüssel heraus. "Ich bin zwar noch immer ziemlich wütend, aber wenn mein Erzeuger dir Leid antut, musst du zu mir kommen. Ich werde dir helfen. Das ist der Schlüssel zu meiner Wohnung, bewahre ihn gut! Meine Wohnung ist auf der West Side, Amalienstreet 10, 4. Obergeschoss, die zweite Tür links. Merke dir das!", instruierte er mich streng. Wieder nickte ich, denn mir fehlten einfach die Worte. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass Matthew mir auf diese Weise noch immer zur Seite stehen würde. Er nickte mir ebenfalls zu und ließ mich dann mit meinem Gefühlschaos allein in der Küche zurück. Schnell schüttelte ich meinen Kopf, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Matthew hatte mich so aus dem Konzept gebracht, dass ich keine Ahnung hatte, was ich als nächstes machen wollte. Plötzlich hörte ich ein lautes Zischen. Flink drehte ich mich zurück und hob geschockt die Kartoffeln vom Herd, die mir gerade übergekocht waren. Verärgert schubste ich den Topf zur Seite und hielt meine Hände geschwind unter kaltes Wasser, denn der Topf war sehr heiß und meine Reaktion ein Reflex. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass ich vielleicht lieber Handschuhe hätte nehmen sollen oder ein Geschirrhandtuch. Auch noch beim Essen mit meinem Onkel schwirrten mir Matthews Worte durch den Kopf. Er war so unheimlich wütend auf mich und doch konnte er mich nicht einfach so zurücklassen. Bedeutete ich ihm doch etwas? Auch, wenn er immerzu versuchte mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte, denn ich war enttäuscht, dass er mich hier zurück ließ. Andererseits hatte ich auch Verständnis für sein Fliehen. Auch war ich noch immer wütend auf ihn wegen allem, was er mir angetan hatte und zugleich war ich auch etwas gerührt und glücklich, dass er mir seine Adresse als Fluchtort genannt hatte und sein Heim auch als solches für mich betitelt hatte. Schließlich hatte er klar und deutlich gesagt, dass ich zu ihm kommen sollte, wenn ich Hilfe benötigen sollte. Zuletzt war ich auch unheimlich irritiert. Seine Adresse lag auf der West Side, dem eigentlich gehobeneren Viertel der Stadt. Wie sollte er sich so eine Wohnung in dem Viertel leisten können? Er verdiente ja gar kein Geld. Ziemlich entkräftet schlurfte ich nachdem Abwasch ins Badezimmer. Ich war verwundert, dass mein Onkel nun schon länger gnädig war und mir kein Leid zugefügt hatte. Aber vielleicht war das auch nur die Ruhe vor dem Sturm? Es war schon viel zu lang still um ihn. Im Badezimmer machte ich mich schnell unter der Dusche frisch und genoss den kurzen Moment unter dem prasselnden Wasser. Es ließ mich kurz vergessen und meine Gedanken verstummten für wenige Sekunden. Gerade, als ich mich in mein Zimmer schleichen wollte, hörte ich meinen Onkel laut vor Freude johlen. Irritiert hielt ich inne. Sein lautes Stampfen erklang im Flur und die Haustür schloss sich mit einem schrillen Klirren. Vorsichtig schaute ich herunter in den Flur und sah ihn am Telefon wild herum tippen. Schlussendlich hielt er es sich ans Ohr. "Hey, ja ich bin es. Du glaubst es nicht, ich habe gerade zwei Tickets für das Spiel am Wochenende gewonnen! VIP-Tickets!", brüllte er ziemlich aufgeregt ins Telefon. Mein erster Gedanke war, dass Vanessa ziemlich schnell mit ihrem Vorhaben war. Sie wollte wohl wirklich unbedingt, dass ich am Samstag dabei bin. "Ja, ich habe wohl bei irgendeinem Gewinnspiel mitgemacht, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Wahrscheinlich habe ich bei dem letzten Spiel zu tief ins Glas gesehen.", sagte mein Onkel amüsiert zu seinem Freund am anderen Ende der Telefonleitung. Ich lauschte noch bis zum Ende des Telefonats, um sicherzugehen, dass er es sich auch nicht anders überlegt. Schlussendlich stand fest, dass ich ab achtzehn Uhr sturmfrei haben sollte. Ich wusste nicht, ob ich mich nun freuen oder lieber noch immer besorgt sein sollte. Schließlich könnte so viel schief gehen. In meinem Zimmer zog ich mich auf meiner Matratze zurück und erledigte den Rest meiner Hausaufgaben. Anschließend schlüpfte ich erneut in Jonathans Pullover und versuchte schlafen zu gehen, aber sobald ich meine Augen geschlossen hatte, musste ich an Jonathan denken. Was und wie sollte ich nur morgen mit ihm sprechen? Welche Worte sollte ich finden, um mein Handeln zu rechtfertigen? Welche Formulierungen könnten ihn milde stimmen? Wie wird er mir verzeihen?

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